Dzogchen, chinesischer Buddhismus und universeller Geist (Teil 2)

VajranathaLamavon Lama Vajranatha (John Myrdhin Reynolds)

Yogachara und Dzogchen

Gemäß der Nyingma-Tradition waren bereits die Dzogchen-Meister Manjushrimitra und Shri Singha unabhängig davon im tantrischen Umfeld in Indien aktiv. Allerdings war Manjushrimitra, ein gebildeter Gelehrter brahmanischer Herkunft, offensichtlich ein Anhänger der Yogachara-Schule, bevor er ein Schüler des geheimnisvollen Prahevajra oder Garab Dorje (tib.; dga‘ rab rdo rje) aus dem Land Oddiyana (Ost-Afghanistan) war. Man sollte sich auch in Erinnerung rufen, dass man von seinem Schüler Shri Simha sagt, er sei in China geboren und habe dort einige Zeit lang gelebt (jedoch wohl mehr chinesisches Zentralasien), bevor er nach Indien kam. Und sein Schüler Vimalamitra besuchte China (oder Zentralasien) bevor und nach er nach Tibet kam und die Lehren des Dzogchen an seine Schüler im Kloster Samye übertrug.
Ferner ist es hinsichtlich des Inhalts ziemlich einleuchtend, dass die frühe Dzogchen-Bewegung des 8. und 9. Jhdts. nicht die Chittamatra-Lehre der Yogachara lehrte, obwohl sie einiges aus der Begrifflichkeit der frühen Schule entlehnt haben. Aber sie verstanden diese Begriffe in einen anderen Art und Weise als die Yogacharins. Die Vorsätze des Dzogchen finden sich in den Dzogchen-Tantras des Atiyoga und nicht in den Mahayana-Sutras der dritten Drehung des Dharma-Rades, auch wenn später Lamas und Gelehrte in Tibet die Existenz gewisser Ähnlichkeiten in der Terminologie zwischen Dzogchen und Chittamatra festgestellt hatten. Das kann aufgrund der Aktivitäten des Gelehrten Manjushrimitra sein, der ein Buch über die Lehren von Garab Dorje aus der Sicht des Yogachara schrieb.
Nichtsdestotrotz werden im bsam gtan mig sgron – „Die Lampe für die Augen der Kontemplation“ – von Nubchen Sangye Yeshe (tib., gnubs sangs rgyas ye shes) die speziellen Standpunkte von Dzogchen und dem Sutra-System des Mahayana dargelegt und ganz klar unterschieden. Dzogchen behauptet nicht, dass alles nur Geist ist, sondern vielmehr behauptet es, dass alles, alle Phänomene, als eine Manifestation des Geistes erscheinen (tib., kun la sems kyi snang ba yin). Wir kennen nur die sogenannte gegenständliche Welt, die wir naiverweise für substanziell und real halten, durch den Geist, durch ihre Symbole und kulturell konditionierten Prozesse der Wahrnehmung und Vorstellung. Man braucht nicht sagen, dass sowohl Texte des Dzogchen als auch des Chittamatra von individuellen Geistesströmen sprechen. Ganz gewiss haben weder Dzogchen noch irgendeine andere tibetische buddhistische Schule jemals gelehrt, dass „der Eine Kosmische Geist allein real ist.“ Die Dialektik der Madhyamaka von Nagarjuna und Chandrakirti machen bald kurzen Prozess mit solchen metaphysischen Thesen und Spekulationen.

Buddhismus in China

GuanyinAndererseits hat sich ein selbst gezogener chinesischer Buddhismus, der sich dem einheimischen Daoismus angepasst hat, über einen universellen Geist in seinen Auslegungen der Mahayana-Sutras spekuliert und sie taten dies in einer Manier unähnlich zu Evans-Wentz. Die chinesische Tradition sagt uns, dass der Buddhismus unter der Herrschaft des Kaisers Ming (58 – 75 n. Chr.) in der Han-Dynastie aus Zentralasien nach China kam. Zuerst am Hof und dann andernorts in China wurde der Buddhimus als eine Art okkultes System ähnlich der Yin-Yang-Schule angesehen. Anstrengungen wurden unternommen, um sich auf ihn zu beziehen und ihn in den Begriffen der daoistischen Vorstellungen zu interpretieren und dann kam die Legende auf, dass der indische Shakyamuni Buddha eigentlich ein Schüler des ehrwürdigen daoistischen Meisters Lao Tzu gewesen war, der auf geheimnisvolle Weise auf einem Büffel gen Westen reitend verschwunden ist. Daher wurden die buddhistischen Sutras zunächst einmal bloß als ausländische Variante der Lehren des Tao Te Ching angesehen.
Als nachfolgend im 3. und 4. Jhdt. mehr buddhistische Sutras ins Chinesische übersetzt wurden, wurde der Buddhismus als eine Philosophie ähnlich der des daoistischen Meisters Chuang Tzu betrachtet. Und allgemein wurden buddhistische Sutras mit den Ideen und der Terminologie interpretiert, die dem philosophischen Daoismus (dao chia) entnommen waren. Dieser Vorgang ist als Interpretation durch Analogie (ko yi) bekannt, aber diese Auslegung der indischen buddhistischen Lehren in Begriffen des einheimischen Daoismus führte zu viel Verwirrung und Verfälschung. Dies war im Falle von Evans-Wentz und seiner neo-theosophischen Hermeneutik nicht viel anders.

Kumararaja

Im 5. Jhdt. kam eine ansehnliche Flutwelle an Übersetzungen buddhistischer Sutras [nach China]. Daraufhin wurde die Methode der Analogie abgelehnt. Dieses neue System der präzisen Übersetzungen aus dem Sanskrit ins Chinesische war größtenteils das Werk von Kumaraja (344 – 413 n. Chr.). Von indischer Herkunft war in der zentralasiatischen Handelsstadt Kucha heimisch. Als die chinesischen Armeen der Tang-Dynastie das zuvor unabhängige Kucha eroberten, wurde der 40-jährige buddhistische Mönch in die kaiserliche Hauptstadt von Chang-an mitgenommen, da er der größte Schatz unter der Beute ihrer Eroberung war. Ungeachtet seines indischen buddhistischen Hintergrunds verwendete Kumaraja dennoch ein paar wenige daoistische Begriffe, um buddhistische Konzepte auszudrücken, wie yu (Existenz), wu (Nicht-Existenz), wu wie (Nicht-Tun) usw. Aber das hier war nur einen oberflächliche Ähnlichkeit, wohingegen früher Buddhismus eigentlich als eine Gattung des Daoismus interpretiert wurde.
Jedoch führte die stufenweise Interpretation des indischen Buddhismus und der daoistischen Spiritualität zum Auftreten der charakteristischen chinesischen Form des Buddhismus, entgegengesetzt zur bloßen Transplantation des indischen Buddhismus nach China. Einige buddhistische Schulen in China blieben völlig indisch im Ansatz und im Geiste, wie die Wei-Shih Tsung, die Schule des Reinen Bewusstseins, die von Hsuan Tsang (596 – 664 n. Chr.) gegründet wurde. Aber solche Schulen beschränkten sich nur für einen kurze Zeit auf kleine elitäre Gruppen unter der chinesischen Intelligenz und erreichten nicht den Durchschnitt der chinesischen intellektuellen Dienerschaft in der kaiserlichen Bürokratie, ganz zu schweigen die Tibeter. Also kann Dzogchen historisch nicht von der Schule des Hsuan Tsang abstammen.

Das nächste Mal geht’s um Tantra in China und den “Einen Geist”. Also dranbleiben! Fortsetzung folgt! Wer’s aber nicht erwarten kann und noch mehr Information darüber hinaus haben möchte, kauft sich am besten das Buch “Self-Liberation through Seeing with Naked Awarness“.


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