Dzogchen, chinesischer Buddhismus und universeller Geist (Teil 1)

Einführende Erklärungen – wichtig zu lesen!

Einleitend als Information muss erwähnt werden, dass Evans-Wentz weder der tibetischen Sprache mächtig war, noch ein buddhistischer Praktizierender war. Er redigierte lediglich die Übersetzungen von Lama Kazi Dawa Samdup, den er allerdings nicht ausführlich zu Rate ziehen konnte, weil dieser sehr früh verstarb. Also interpretierte Evans-Wentz die Lehren des Dzogchen und des Vajrayana (siehe Tibetisches Totenbuch und Geheimlehren Tibets) aus der Sicht der Theosophie, deren Anhänger und Praktizierender er war. Das Resultat war eine Verzerrung der Lehren. Somit hat auch C.G. Jung in seinem Vorwort zu Evans-Wentz Büchern sich auf dessen Aussagen gestützt und einfach Folgefehler begangen. Nichtsdestotrotz stellen die Werke von Evans-Wentz eine Pionierleistung dar, bedürfen aber dringend einiger Klärung.
Hier ein interessanter Beitrag aus dem Buch von Lama Vajranatha (John Myrdhin Reynolds) über die Lehren des Dzogchen, Zen und universellen Geistes. Mehr dazu findet sich in seinem Buch “Self-Liberation through Seeing with Naked Awarness
“.

Dzogchen und chinesischer Buddhismus

von Lama Vajranatha (John M. Reynolds)

JohnReynoldsDer historische Ursprung der Dzogchen-Lehren und der Beziehung des Dzogchen zu bestimmten anderen buddhistischen Lehren und Traditionen wie Yogachara oder Chan oder Zen hat nicht nur Gelehrten im Westen verwirrt, sondern auch in Tibet. Ein paar führende tibetische Lamas und Gelehrte haben Dzogchen beschuldigt, ein chinesischer Dharma (tib.; rgya nag gi chos) zu sein oder behauptet, das es mit Bön oder dem Advaita Vedanta verbunden sei. Hinsichtlich dieser Frage schreibt im Westen beispielsweise W.Y. Evans-Wentz in seiner Pionierarbeit über Dzogchen – dem „Tibetischen Buch der Großen Befreiung“ (1954): „Unsere gegenwärtige Abhandlung, die Padmasambhava zugeschrieben wird, welche die Erkenntnismethode für das Realisieren der Großen Befreiung im Nirvana durch das yogische Verständnis des Einen Geistes darlegt, gehört zur Lehre der Großen Vollkommenheit der Dhyana-Schule. Zwischen dieser und der Abhandlung über das Erlangen des Reinen Bewusstseins (Cheng Wei Shih Lun), auf der die Sekte des Reinen Bewusstseins in China basiert, gibt es eine sehr enge lehrmäßige Beziehung. Beide Abhandlungen legen gleichermaßen die Lehre dar, dass die einzige Realität der Geist oder das Bewusstsein ist und das kein Lebewesen eine individuelle Existenz hat, sondern grundsätzlich ewig und untrennbar eins mit dem universellen Allbewusstsein ist.“
Evans-Wentz & Lama Kazi Dawa SamdupDa gibt es zwei Punkte hinsichtlich des Ursprungs und der Verbindungen des Dzogchen, die in Bezug auf dieses Zitat berücksichtigt werden müssen. Wenn Evans-Wentz zunächst einmal auf „die Große Vollkommenheit der Dhyana-Schule“ bezieht, dann verbindet er Dzogchen vermutlich mit der Chan-Schule von China in Verbindung, die im Westen viel besser durch ihr japanische Version als Zen bekannt ist. Zweitens legt dies nahe, dass es eine enge Beziehung und vielleicht eine direkte historische Verbindung zwischen Dzogchen und der Reinen-Bewusstseins-Schule (Wei Shih Tsung) von China gibt. Er behauptet, dass beide der oben zitierten Texte die Lehre so darlegen, dass die einzige Realität der Geist oder das Bewusstsein ist. Betrachten wir den zweiten dieser Spekulationen zuerst an.
Die Yogachara-Schule und die Lehre vom „Nur-Geist“. Hinsichtlich der Behauptung, dass Geist allein real ist, so ist dies die Sichtweise, die traditionell mit der Yogacharin oder der Vijnanavadin-Schule der Mahayana-Philosophie in China assoziiert ist. Diese Schule wurde hauptsächlich durch ihre Sichtweise des Chittamatra oder „Nur-Geist“ (tib.; sems tsam) charakterisiert. Die Anhänger dieser Schule behaupten, dass sogar die Objekte der Wahrnehmung, die Welt, die außerhalb von uns ist, leer ist und dass es ihr an jeglicher innewohnender Realität fehlt, aber die Bewusstseinszustände, die sie erkennen und sie als Objekte wahrnehmen, jedoch wirklich sind.
VasubandhuDie Lehren des Yogachara-Systems wurden zuerst in ausführlichen Schriften der zwei Brüder Asanga und Vasubandhu im 3. Jhdt. unserer Zeitrechnung dargelegt. Diese Sichtweisen von den Yogacharins wurden dann aber von den Meistern der Madhyamika-Schule zurückgewiesen, insbesondere von Chandrakirti. In der Form der Prasangika Madhyamaka, die sich mit den wesentlichen dialektischen Methoden beschäftigt, die von Chandrakirti perfektioniert wurden, wurde dies die offizielle philosophische Position unter allen fünf tibetischen Schulen, einschließlich der Nyingmapa und der Bönpo. Selbst auf den brillianten Kommentaren des großen Meisters Nagarjuna zu den Prajnaparamita-Sutras basierend, wiesen die Prasangika Madhyamikas darauf hin, dass wir möglicherweise nicht die Behauptung aufstellen können, das „Geist allein real sei“, weil diese Sichtweise nur zu Absurdität und Widersprüchlichkeiten in sich selbst führt, wenn sie kritisch überprüft und zu ihren logischen Schlussfolgerungen gebracht wird. Tatsächlich ist dies gemäß der Prasangikas bei jeder metaphysischen Aussage hinsichtlich der letztendlichen Natur der Wirklichkeit der Fall, weil die Natur der Wirklichkeit (Dharmata) die konzeptionellen Begrenzungen, die von den Kategorien und verstandesmäßigen Vorgängen des endlichen menschlichen Verstandes angestellt werden, übersteigt und darüber hinaus führt. Der menschliche Verstand ist einfach zu klein und provinziell, um die gewaltige Vielfalt des Universums zu umfassen. Es ist moderne Arroganz anderes zu glauben. Realität transzendiert alle logischen und ontologischen Kategorien, die wir mit dem Verstand konstruieren können.
Auch wenn wir keine solche definitiven Aussagen hinsichtlich der letztendlichen Natur der Dinge treffen können, ob zustimmend oder ablehnend, negiert das in keiner Weise den Pfad der Befreiung oder das Ziel des Nirvana. Akademische Philosophen in ihren Klassenzimmern können sehr tiefgründige Theorien und abstruse metaphysische Systeme darlegen, aber außerhalb des Klassenzimmers gibt es noch immer den Alltag und die gewöhnliche Sprache und diese muss sich mit konkreten Begriffen beschäftigen. Für eine Schule also, die behauptet, dass wir nichts Zustimmendes oder Negatives endgültig sagen können, haben die Madhyamikas tatsächlich eine Menge über den spirituellen Pfad zu sagen. Das ist deshalb so, weil Madhyamaka nicht wirklich eine philosophische Schule ist, die bestimmte gut definierte Positionen behauptet, sondern eine Art philosophische Analyse über die Bedeutung von Sprache anstellt und eine Art intellektuelle Therapie darstellt, die den menschlichen Geist von seinen unverbürgten Mutmaßungen über die Natur der Realität heilt, welche für das Individuum ein falsches und begrenztes Bild von der Realität erzeugen und den Fortschritt auf dem spirituellen Pfad blockieren oder behindern. Madhyamaka ist eine Methode der philosophischen Analyse, aber kein Nihilismus, der behauptet, das nichts existiert und weder leugnet noch negiert sie den Pfad, der von den Buddhas aufgezeigt wird.
NagarjunaUnter den tibetischen Buddhisten wird die Lehre des Chittamatra – „Nur der Geist ist wirklich“ – als eine vorläufige Lehre angesehen und nicht als die letztendliche Lehre des Buddha. Wenn das so ist und dies nicht die endgültige Sichtwesie darstellt, warum hat Shakyamuni Buddha diese Sichtweise dann als „Nur-Geist“ gelehrt? Als der Buddha seinen Vortrag über die Prajnaparamita, der Vollkommenheit der Weisheit, am Geiergipfel nahe Rajagriha dargelegt hatte, erschraken viele seiner Shravaka-Schüler wegen der Perspektive über Shunyata oder Leerheit – die Behauptung, dass es keine substanzielle Realität in oder hinter dem gibt, was wir als phänomenale Existenz wahrnehmen. Diese Shravakas hatten die Sichtweise des Alltagsverstandes abgelehnt, dass die Phänomene der Welt getrennte Entitäten seien, die aus dem „Ding“ oder selbstexistierenden Substanzen wie Fleisch, Holz, Steine usw. gemacht sind, aber sie klammerten sich an die Sicht, dass momentane elementare Ereignisse im Bewusstseinsstrom (dharma-atmavada) irgendwie real wären. Sie behaupteten, dass das Selbst im Individuum nicht real sei, dass aber diese Dharmas oder phänomenalen Ereignisse real sind. Dies stellt den Grund der Realität dar, auf die sich diese Shravakas klammerten, den Gedanken, dass zumindest Dharmas real sind, während die Phänomene der Welt bloße Illusionen sind. Als ein Ausdruck seines Mitgefühls und seiner geschickten Mittel lehrte ihnen Shakyamuni später an verschiedenen Orten eine geringere Lehre, die obwohl sie nur einen Teil der Wahrheit darstellt, dennoch etwas war, das ihnen helfen würde, zur letztendlichen Wahrheit kommen, für die sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht bereit waren.
Wie wir an anderer Stelle erklärt haben, wurden die verschiedenen Lehren, die man in den Sutras findet gemäß der drei Drehungen des Dharma-Rades eingeteilt. Die erste Drehung stellt die Abhandlung des Buddha über die Vier Edlen Wahrheiten dar, die den fünf Asketen im Hirschpark nahe Varanasi dargelegt wurden. In dieser Kategorie finden sich alle Abhandlungen, die man als die Hinayana-Sutras kennt. Ursprünglich umfasste im alten Indien der Hinayana-Ansatz 18 verschiedene Schulen, von denen nur die Theravadins in Südostasien überlebt haben. Die zweite Drehung stellt seine Abhandlung über die Vollkommenheit der Weisheit am Geierberg nahe Rajagriha dar. Diese Klasse beinhaltet alle Mahayana-Sutras, die mit der Sicht und der Methode der Prajnaparamita zusammenhängen und sie basieren auf jenen Schriften, auf denen die Literatur der Madhyamaka-Schule basiert. Die dritte Drehung fand später an verschiedenen Orten statt und diese Klasse beinhaltet jene Mahayana-Sutras wie das Lankavatara-Sutra, das Sandhinirmochana-Sutra usw., die die Schule der Chittamatra (Nur-Geist) lehrt und sich auf die Lehren bezieht, die von Tathagatagarbha (dem Embryo der Buddhaschaft) in allen fühlenden Wesen handeln, die später von der Yogachara-Schule systematisch ausgearbeitet wurden. Die Lehren des Yogachara-Systems wurden zuerst in den ausführlichen Schriften der Brüder Asanga und Vasubandhu im 3. Jhdt. unseres Zeitalters ausgeführt.

Hsuan Tsang

hsuan_tsangIm 7. Jhdt. reiste zwischen den Jahren 626 und 645 ein chinesischer buddhistischer Gelehrter mit dem Namen Hsuan Tsang über Land durch Zentralasien nach Kashmir und Indien. Er bliebt viele Jahre in Indien und während dieser Zeit meisterte er Sanskrit und buddhistische Philosophie. Nach seiner Rückkehr nach China schrieb er auf Bitten des Kaisers einen vollständigen Bericht darüber nieder, was er in Zentralasien und Indien gesehen hatte. Dieser Bericht, das Si-yu-ki oder „Die Reise nach Westen“ wurde eine der primären historischen Quellen über Indien in dieser Zeit. Hsuan Tsang war besonders an der Philosophie der Yogachara interessiert und sammelte daher die Schriften der wesentlichen Sanskrit-Texte und später, während er wieder in China war, übersetzte er sie ins Chinesische. Als ein Übersetzer war er hauptsächlich daran interessiert, diese indische Schule des Mahayana-Sutra Buddhismus in sein Geburtsland einzuführen. Demzufolge waren seine Schriften mehr dem indischen Geist als dem chinesischen entsprechend und hoben sich deutlicher von den reinen chinesischen Reaktionen auf den Buddhismus hervor, als die ihm vorausgegangen waren.
Sein berühmtestes Werk war des Cheng Wei Shih Lun. Dieses Werk ist viel mehr als nur eine fromme Übersetzung eines Sanskrit-Textes der Yogachara, da es das Vijnaptimatrata-Siddhi und Trimshika beinhaltet, zusammen mit Hsuan Tsangs eigenen Kommentaren. Obwohl also Hsuan Tsang zum Begründer der Schule des Reinen Bewusstseins in China wurde, erwähnt er in seinen ausführlichen Schriften nirgendwo Tibeter und Dzogchen und seine chinesische Sutra-Schule kann daher keine Quelle für Dzogchen sein, so wie Evans-Wentz anscheinend in seinem Zitat nahelegt.

Fortsetzung folgt! Das nächste Mal gibt’s etwas zur Sicht der Yogacharins und mögliche Verbindungen zum Dzogchen! Also dranbleiben oder einfach “Self-Liberation through Seeing with Naked Awarness” kaufen!


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