DVD: DIL SE / VON GANZEM HERZEN

Von Zyw

DIL SE (dt: VON GANZEM HERZEN) (IND 1996)
R + B: Mani Ratnam; (Dialoge: Sujatha, Tigmanshu Dhulia). P: Shekar Kapur, Mani Ratnam, Ram Gopal Varma. K: Santosh Sivan. M: A.R. Rahman. SCH: Suresh Urs
D: Shahrukh Khan (Amarkahnt „Amar“ Varma), Manisha Koirala (Meghna), Preity Zinta (Preeti Nair); Raghuvir Yadav (Shukla)
Format: Dolby, PAL, Surround Sound
Sprache: Deutsch / Tamil
Untertitel: Deutsch
Region: Region 2
Bildseitenformat: 16:9 - 1.77:1
Anzahl Disks: 1
FSK: ab 16 Jahren
Spieldauer: 159 Minuten
Die erste deutsche DVD-Veröffentlichung bot noch eine bescheidene Bildqualität und nur die Untertitelung der bereits in Hindi synchronisierten Fassung. Bei der Neuauflage von DIL SE hat Rapid Eye Movies nun diesem jungen Klassiker des indischen Films mehr Aufmerksamkeit gewidmet. Die tamilische Originalsprachfassung von UYIRE (so der Tamil-Titel) ist zu haben, dazu noch eine deutsche Synchro-Version. Dass und wie letztere trotz der Schmähung der Genießer, die auf die Originalstimmen setzen, eine ganz eigene, aufwändige Kunst für sich ist, zeigt das Bonus-Material der neuen DIL-SE-DVD, in der u.a. Shahrukh-Khan-Sprecher Pascal Breuer bei seiner Arbeit gezeigt wird.
Damit ist geschickt kaschiert, was ansonsten etwas traurig ist: dass ein eigenes Making of von DIL SE oder dergleichen nicht zu haben ist – sicher weil es ein solches Material schlicht nicht gibt. Eine kleine Entschädigung bietet das 15-Seiten-Booklet mit einem Text von Susanne Marschall, Dozentin der Mainzer Filmwissenschaft und Expertin des indischen Kinos, die Hintergrundinformationen zu DIL SE beisteuert und auf diverse Vorzüge und Aspekte des Films hinweist.
DIL SE ist der dritte Teil von Mani Ratnams Trilogie über politische und religiöse Gewalt. Mit ROJA (1992) widmet er sich dem kaschmirischen Separatismus: Der Gatte der frischvermählten Südinderin ROJA wird dort gekidnappt, auf dass sie sich für seine Befreiung einsetzt. BOMAY / BUMBAI (1995) macht den Zwist zwischen Hindus und Muslimen zum Gegenstand; erst auf dem Land, wo sich Mann und Frau über die Religionsgrenzen hinweg verlieben, dann in der (titelgebenden) Großstadt, wohin sich die Beiden flüchten und wo sie vor ethnischen Differenzen scheinbar sicher sind – bis zu den Ayodhya-Unruhen mit ihren Grausamkeiten (1992/1993), die Indien bis heute traumatisiert haben.
Aus BOMBAY „mitgebracht“ hat Ratnam für DIL SE Manisha Koirala als seine Hauptdarstellerin. Sie spielt Meghna, eine scheue, abweisende junge Frau, in die sich der All-India-Radio-Reporter „Amar“, Repräsentant des zentralistischen, urbanen Indiens, Hals über Kopf bei seiner Reise in den unruhigen Nordosten verliebt. Shahrukh Khan gibt hier den für ihn typischen fröhlichen Charmeur mit Hoppla-jetzt-komm-ich-Attitüde, doch an Meghna beißt er sich die Zähne aus: Immer wieder begegnet er ihr, reist ihr nach, kommt ihr näher – und gibt schließlich doch auf, als sie erneut verschwindet. Er kehrt nach Delhi zurück, verlobt sich wie von den Eltern erwünscht (und arrangiert), ohne freilich Meghna vergessen zu können.

Diese steht dann pünktlich zur Verlobungsfeier vor Amars Tür. Denn was der Held noch nicht weiß: Meghna ist nicht (nur) die schutzbedürftige Frau, die es in und aus einer Welt der Gewalt zu retten gilt (wie es Amar sich in einer Song-and-Dance-Szene „erträumt“), sondern selbst eine durch politisches Trauma, Mord und Vergewaltigung seelisch verwüstete Aktivistin und Terroristin, die mit einer Gruppe einen Anschlag auf die indischen Unabhängigkeitsfeierlichkeiten plant. Die Polizei auf den Fersen, sucht sie nun Unterschlupf bei Amar und über seine Stellung bei der Presse Zugang zu den Festivitäten.
******* Achtung Spoiler! Informationen zu Wendungen und Ausgang des Films werden im Folgenden angesprochen und damit „verraten“ ****************
Amar gerät nun zwischen Polizei und Terroristen und kann Meghna, die bereits ihre Mission zu bezweifeln begann, aber sich die Liebe zu Amar nicht erlaubt (oder erlauben „kann“), abfangen, als sie sich mit der Sprengstoffweste versehen auf den Weg zum Attentat macht. In der typischen Bollywood-Welt der großen Geste kann und will Amar ohne Meghna nicht sein; auch sie ist hin und her gerissen – und ergibt sich, so schein’s, in ihr Schicksal. In höchster tragödischer Schließung werden Amar und Meghna von Meghnas Bombe zerrissen.
Ratnam, der in Madras (dem heutigen Chennai) an der Ostküste geboren wurde, arbeitet stets ein wenig außerhalb der „industriellen“ Standards, die das Bollywoodkino Mumbais vorgibt. Mit DIL SE hat er die Gesetze des „Masala“-Films jedoch zu sehr verletzt: Nach den Erfolgen von ROJA und BOMBAY wurde DIL SE erwartungsvoll in Hindi synchronisiert (normalerweise läuft es eher andersherum), doch der Film – im Ausland gepriesen – floppte trotz diverser Filmfare-Awards an den Kinokassen (so zumindest Virdi 2003).

So steht Amar mit seinem Darsteller Shahrukh Khan nicht nur für die indische Einheit, das ideale Hindustan und den Wert und Fortschritt der Nation beschwörenden Zentral-Inder, sondern auch für Bollywood mit seiner Leichtigkeit und damit dem Ungenügen gegenüber der realen Probleme und der Zerrissenheit des Landes an den Grenze. Diese symbolisiert Meghna, als Vertreter des „Anderen“, der Peripherie, für die die „heile Welt“ keine Gültigkeit haben kann (vgl. dazu auch Chakravarty 2005). Es ist denn auch nur bedingt richtig, wenn Susanne Marschall im Begleittext DIL SE als eine Auseinandersetzung mit dem Kaschmirkonflikt darstellt: Tatsächlich stehen Meghna, ihre Kampfgenossen, ihr Unfrieden, ihre Unzufriedenheit mit der Zentralregierung und die traumatische Gewalt, die sie radikalisiert haben stellvertretend für alle geographisch peripheren Krisenherde der Nation. Ratnam verwischt die konkreten Konfliktgrenzen bzw. verbindet sie: So beginnt der Film in Assam, wohin Amar reist, um die Bevölkerung zu interviewen. Er zeichnet Beschwerden über die Nichtbeachtung durch Delhi auf, befragt einen Rebellen- / Terroristenführer, der wegen der Unterdrückung für Unabhängigkeit kämpft. Erst später reist er Meghna nach Kaschmir nach, die dort schließlich in einer Hütte in einem Bergdorf den Terroristen-Eid ablegt.


Woher Meghna genau stammt, lässt der Film offen. Ihr Heimatdorf wird zum einen als schneebedeckt und bergig (Kaschmir), gleich im Anschluss als schneefrei und im Wald gelegen präsentiert – eine weitere Verlinkung des unruhigen Nordostens (mit Assam, Tripura, Nagaland etc.) und dem Kaschmirgebiet. Die entsprechende Rückblende wird jedoch deutlich und eindringlich, wenn es um ihr Schicksal geht, wenn er zeigt, wie die Menschen in ihrem Dorf getötet, ihre Schwester vergewaltigt und ihr (angedeutet) dasselbe widerfährt – eine Traumatisierung, die sie, mit ersticktem, zum Schrei erstarrtem Gesicht, wieder einholt. Amars traditionell virile Annäherung und die entsprechende Rollenverteilung vom erobernden Mann und der zu erobernden Frau des Bollywood-Kinos versagt damit besonders bitter.
Wenn Amar Meghna schließlich zur Rede stellt, bietet DIL SE einen ebenfalls besonders tiefgreifenden Schlagabtausch zwischen den beiden und die von ihnen repräsentierenden Positionen. Er will alles für sie aufgeben, davonlaufen sollen sie, Meghna alles vergessen. Die schreckliche Vergangenheit: Fehler einzelner. Und, ein besonders hartes Argument, von ihm, dem Sohn eines verstorbenen Militärs (und das Militär behauptet in Indien wie im Hindi-Kino eine besondere Ehrenposition): Ohne die Sicherheitskräfte würden sich die einzelne Stämme doch nur gegenseitig massakrieren. (Der Film zeigt denn auch die Grausamkeit in Meghnas Dorf nicht klar als eine der Armee, nur Waffen, Schemen, Subjektive der Vergewaltiger.)
Meghna kontert. Wirft ihm die Ferne zu den Schrecklichkeiten vor, die auch von den Sicherheitskräften begangen werden: Mord, Vertreibung, Vergewaltigung. Der Wunsch nach Rache entwächst daraus; darauf wird der Anschlag hinweisen – und wie kann Indien seine Unabhängigkeit feiern, wenn es zugleich die Völker an seinen Grenzen unterdrückt.

Beide haben sie Recht und beide irren sie, genauer: stecken hoffnungslos fest in ihrer Weltsicht und deren „Lösungen“. Die spröde, traurige Meghna kommt aus ihrem Hass, ihrem Kampf und der formalisierten Opferbereitschaft nicht (mehr) heraus; Meghna, der der Freiheitskampf die einzige Heimat und Identität verleiht. Amar wiederum hat und kann nicht mehr bieten als die fadenscheinigen Bollywood-Weisheiten vom Vergeben und Vergessen, dass lediglich Einzelne schuldig sind und die Liebe alles richten wird. DIL SE präsentiert diesen Widerstreit in letzter Konsequenz, wenn er seine beiden Liebenden zuletzt an und in ihren Gegensätzen, gegen und miteinander „zerreißt“.
Hierin ist und bleibt DIL SE freilich doch Bollywood, gibt Amar eher Recht und lässt ihn „gewinnen“: Der Anschlag wird verhindert (und für die restlichen Terroristen interessiert sich der Ratnam gar nicht mehr), Amar, der ohne seine Meghna nicht leben will, muss dies auch nicht; beide sind sie im Tod vereint. Immerhin findet so auch Meghna einen – wenn auch bitteren – Frieden. Warum die Bombe schließlich explodiert, einfach so oder bewusst gezündet, lässt DIL SE offen.
Letztlich ist DIL SE denn auch kein Politthriller, sondern „nur“ eine Liebestragödie, die jedoch bestechend direkt und eindringlich das Tragödische des Terrorismus einbindet und zur Schau stellt, indem er traurige Besessenheit mit Gutmenschen-Hoffnung kollidieren und beide aneinander ausradieren lässt. Dass er keinen Lösungsverweis jenseits der Welt des persönlichen Leids und seiner Kinotraumwelt anbietet, ehrt ihn dabei.

Für die richtige Mischung zwischen Kintopp und Problemfilm bieten denn auch die vorzüglichen Namen, die Ratnam hierzu versammeln konnte. Die mitreißende Musik stammt von A.R. Rahman, der 2009 den Oscar für SLUMDOG MILLIONAIRE (2009) erhielt, derweil die Tanzszenen von Farah Khan choreographiert wurden, die mit OM SHANTI OM (2007) und MAIN HOON NA (2004) selbst zur Erfolgsregisseurin avancierte.
Zwischen gelackter und poetischer Schönheit, Konstatierung und farbsymbolischer Kommentierung bezieht die Kameraarbeit von Santosh Sivan die richtige Zwischenposition – Santosh Sivan, der selbst als Regisseur arbeitet und sich mit THEEVIRAVAATHI: THE TERRORIST (1999) und TAHAAN (2008) dem Terrorismus und seinen Zu- und Umständen auf eine bisweilen fast elegische, impressive oder naturschwelgerische poetische Distanz gewidmet hat.
Bernd Zywietz
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Literatur:
Chakravarty, Sumita (2005): Fragmenting the Nation: Images of Terrorism in Indian Popular Cinema. In: J. David Slocum (Hg.): Terrorism, Media, Liberation. New Brunswick NJ / London 2005: Rutgers University Press, S. 232–247.
Marschall, Susanne (2009): Von ganzem Herzen. Mani Ratnams Meisterwerk. DVD-Begleitbooklet. Rapid Eye Movies.
Virdi, Jyotika (2003): The Cinematic ImagiNation. Indian Popular Films as Social History. New Brunswick, NJ / London: Rutgers University Press.