»Düsteres Bild«

Von Tkonicz

Junge Welt, 29.05.2012

Hetze gegen Roma in Tschechien erreicht neue Dimension. Vereinte Nationen und EU: Ausgrenzung in ganz Europa

Vor wenigen Wochen schien es, als ob Tschechiens Faschisten endlich einen Märtyrer gefunden zu hätten. Mitte April wurde ein Schüler mit schweren inneren Verletzungen in ein Krankenhaus im Breclav eingeliefert. Der Fünfzehnjährige gab an, von einer Gruppe Roma brutal zusammengeschlagen worden zu sein, die von ihm Zigaretten erpressen wollten. Daraufhin erreichte die antiziganische Hysterie in Tschechien eine neue Dimension: Die Massenmedien griffen den Fall auf und überschlugen sich in wüster Hetze gegen die Roma, Nazigruppen mobilisierten landesweit zu einer Großdemonstration in Breclav, und der beliebte Schlagersänger Michal David organisierte sogar ein Benefizkonzert für den Schüler.
Der in Tschechien immer öfter in Erscheinung tretende Mob aus frustrierten Kleinbürgern und brutalen Stiefelfaschisten schien endlich seine Ressentiments zumindest an diesem einen Fall bestätigt zu sehen – bis die Polizei meldete, daß die Geschichte von der prügelnden Romabande erfunden war. Der Schüler hat sich beim Balancieren auf dem Treppengeländer eines Plattenbaus verletzt und die Geschichte von dem Roma-Überfall als Schutzbehauptung vor seiner strengen Mutter erfunden. Nun üben sich Tschechiens Medien, die ungeprüft die Behauptungen des verletzten Jugendlichen übernommen haben, zerknirscht in Selbstkritik. Der Schlagersänger Michal David fordert derweil »sein« Geld zurück.

Diese Episode illustriert vor allem das enorme Ausmaß der Marginalisierung, der sich die Roma Tschechiens ausgesetzt sehen. Die zunehmenden Spannungen zwischen Mehrheitsbevölkerung und der verelendeten Minderheit werden seit Monaten erfolgreich von der faschistischen Rechten instrumentalisiert, die mit Aufmärschen in den nordböhmischen Städten gegen angebliche Romaverbrechen protestiert. Die militanten Nazigruppen schrecken auch nicht vor Anschlägen zurück, bei denen es schon Schwerverletzte gegeben hat. Während die Nazis auf den Kundgebungen, die bei etlichen Gelegenheiten in offene Pogrome umzuschlagen drohten, ihren Haß offen ausleben, wird in den bürgerlichen Medien das Feindbild des schmarotzenden und arbeitsscheuen »Zigeuners« gepflegt. Den diskriminierten Roma, die sich mit einer sehr hohen Arbeitslosigkeit konfrontiert sehen, werden so die Folgen ihrer Diskriminierung zum Vorwurf gemacht.

Wie ein jüngst publizierter Bericht der Vereinten Nationen und der Europäischen Union belegt, verschlechtert sich die Lage der Roma aber nicht nur in Tschechien dramatisch, . In dem Report konstatiert die als Koautorin auftretende Agentur der Europäischen Union für Grundrechte (FRA), daß die Roma einer fortgesetzten und rasch zunehmenden Marginalisierung in allen der elf in der Untersuchung berücksichtigten europäischen Staaten ausgesetzt sind. Neben gewalttätigen Übergriffen durch Rechtsextreme häuften sich auch staatlich koordinierte Gewaltakte, bei denen Roma aus ihren Häusern vertrieben und zur Umsiedlung gezwungen wurden. Insgesamt zeichneten die Resultate der breit angelegten Untersuchung, in deren Verlauf 22000 Haushalte befragt wurden, ein »düsteres Bild der Situation«, so die Autoren der FRA. Es gebe zudem keinen signifikanten Unterschied zwischen West- und Osteuropa, da die Roma in Frankreich, Italien und Spanien über ähnlich massive Benachteiligungen klagten wie in Tschechien, Ungarn oder der Slowakei.

Zu ähnlichen Ergebnissen kommt der Jahresbericht 2012 von Amnesty International, der in vielen mittelosteuropäischen Ländern darüber hinaus Tendenzen zu einer apartheidartigen Segregation entdeckt. Dabei werden die Roma aus den Stadtkernen in die Peripherie verdrängt, was die Ghettobildung befördert. In den rund zwei Dutzend Jahren seit dem Beginn der Systemtransformation sind inzwischen Hunderte solcher informellen Ghettos an den Rändern vieler osteuropäischer Städte entstanden, die teilweise mit eigens errichteten Mauern abgetrennt werden. Die Segregation ist auch im Bildungswesen nahezu abgeschlossen. In vielen Ländern Osteuropas werden Roma-Kinder entweder in eigens eingerichtete Romaklassen abgeschoben oder ohne individueller Leistungsprüfung pauschal in Sonderschulen verfrachtet. Mitunter würden hierbei Mauern durch Kindergärten gezogen. In der Slowakei seien überdies Fälle von Zwangssterilisation von Romafrauen bekanntgeworden, alarmierte ­Amnesty International.