Durchgelesen – “Zorngebete” v. Saphia Azzeddine

Fünf Jahre nach der sehr erfolgreichen Erstveröffentlichung in Frankreich unter dem Originaltitel « Confidences à Allah » wird nun erfreulicherweise diese provokant und tragikomische Emanzipationsgeschichte « Zorngebete » dank der grandiosen Übersetzung von Sabine Heymann endlich dem deutschsprachigen Leserpublikum präsentiert.

Saphia Azzeddine, geboren 1979 in Agadir (Marokko), lebt seit ihrem 9. Lebensjahr in Frankreich (in Ferney-Voltaire) nahe an der Französischen Schweiz. Nach ihrem Abitur hat sie Soziologie studiert. Im Anschluss verbrachte sie ein Sabbatical-Jahr in Houston und arbeitete anschliessend als Diamantschleiferin in Genf. Inzwischen ist sie als Journalistin, Drehbuchautorin und Schriftstellerin tätig. Ihr erster Roman « Confidences à Allah » wurde als Theaterstück adaptiert und am Theaterfestival in Avignon 2008 mit Alice Belaïdi in der Hauptrolle der Jbara aufgeführt. Der Erfolg dieses Stücks führte 2010 zu einer Tournée  durch Frankreich, Schweiz, Belgien und Luxemburg. Und die Schauspielerin Alice Belaïdi wurde für diese Hauptrolle mit dem « Molière » 2010 ausgezeichnet. Saphia Azzeddines zweiter Roman « Mein Vater ist Putzfrau » wurde im Sommer 2010 erfolgreich verfilmt und im gleichen Jahr erschien ihr dritter Roman « La Mecque-Phuket ».

« Zorngebete » ist ein sehr mutiges Buch, denn es erzählt die Geschichte einer jungen muslimischen Frau, die sich ihre Freiheit irgendwie erkaufen möchte und dafür jede Art von Sex als « Währung » einsetzt und trotzdem gleichzeitig nie den Glauben verliert und somit in Allah ihren engsten und nicht ganz unkritisch betrachteten « Vertrauten » sieht.

Jbara, so heisst die Anti-Heldin, dieses ganz aussergewöhnlichen, beeindruckenden und sicherlich auch irgendwie verstörenden Romans. Sie versucht mit aller Gewalt aus dem engen Leben in ihrem Heimatdorf zu entkommen. Zwischen Verachtung und Unterdrückung kämpft sie sich durch ein Leben, in dem sie fast schon die Rolle des schwarzen Schafes übernommen hat, wobei sie doch selbst Schafhirtin ist und sie ihre Tiere über alles liebt. Doch die Strenge ihres Vater, durch den Glauben an Allah noch verstärkt, der dadurch alles zur Sünde werden lässt, möchte sie, nein muss sie endlich aus ihrem « Haus » einem Zelt im marokkanischen Tafafilt ausbrechen. Doch wie ? Sie « erkauft » sich bereits ganz früh im Alter von 16 Jahren ihr heissgeliebtes Granatapfeljoghurt durch Sex mit dem alten Hirten Miloud. Sie betet und fleht um Hilfe bei Allah, dass sich bald etwas ändert :

« – Danke, Allah, für die Gesundheit, für die meiner Mutter, meiner Brüder und Schwestern. Danke für …ähhh… meine Schafe… Danke für alles eben, was weiss ich, und ich will Dir sagen, Du bist bestimmt sehr schön und sehr barmherzig und auch sehr glorreich, Allah. Aber trotzdem. Warum hast Du es zugelassen, dass ich noch hier bin ? Findest Du, dass das ein Leben ist, Tafafilt ? Was habe ich hier für einen Wert ausser dem, ein menschliches Wesen zu sein ? Allah, ich flehe Dich an, mach, dass etwas passiert in meinem Leben ! Danke, Allah. Du bist sehr schön, sehr barmherzig und sehr glorreich. Amine. »

Ja und es passiert tatsächlich etwas. Zweimal in der Woche fährt der Bus aus Belsouss vorbei und genau an einem Tag fällt ein Koffer herunter. Es war ein besonderer, ein rosa Koffer, auf dem « J’adore Dior » stand. Jbara nimmt den Koffer zu sich und öffnet das Wunderding und herausfallen Glitzertops, Strings, Jeanshosen, Schuhe mit Keilabsätzen und Geld. Sie ist so glücklich und bedankt sich gleich bei Allah. Doch das Glück hält nur kurz an, denn Allah sorgt auch noch für eine andere, dafür sehr schwierige « Überraschung ». Jbara ist schwanger von Miloud und das bedeutet quasi Tod. Denn eine Frau unverheiratet schwanger wird verstossen. Und so entscheidet sie, selbst wegzugehen, bevor man merkt dass sie schwanger ist. Sie steigt in den Bus mit dem rosa Koffer ein.

Jbara bekommt ihr Kind auf der Strasse, lässt es liegen und schlägt sich als Prostituierte weiter durch. Sie steigt immerhin etwas auf, bekommt durch Kontakte einen Job als Dienstmädchen, doch ihre Schönheit irritiert und provoziert die Männer und so wird sie vom Sohn des Haus-herren vergewaltigt. Sie erträgt es zwangsweisebedingt und mit Hilfe ihrer Gespräche mit Allah. Aber es dauert nicht lange und Jbara entdeckt eine neue oder eher alte Welt in einer Disco :

« Allah, heute Abend werde ich mir wieder Böses zufügen. Ich werde anschaffen gehen. Es ist nicht mehr Miloud. Es ist nicht mehr Abdelkrim. Es ist nicht mehr, um zu essen, es ist, um mir Sachen zu kaufen. Extras. Ausserdem wird es das erste Mal in meinem Leben sein, dass ich es nicht erdulden muss, und das will ich ausleben. Ich bitte nicht um Erlaubnis, ich will nur dass Du weisst, dass ich weiss, was ich tue. Es ist hässlich. Vielleicht ist es haram. Aber zumindest gebe ich nicht Dir die Schuld. Ich übernehme meine Verantwortung. Ich werde den Preis dafür Zahlen, wenn es überhaupt einen Preis zu zahlen gibt. Es sei denn, der Preis ist das Leben. Ich zahle ihn gern. Ich zahle auf jeden Fall cash. Du wirst nicht hinters Licht geführt, niemals würde ich Dich um Kredit bitten. »

Jbara ist der « Stern » in der neuen Diskothek. Sie möchte nicht mehr als Dienstmädchen arbeiten, sondern es zu mehr bringen. Sie verlässt die reiche Familie, nimmt sich ein kleines Zimmer und arbeitet nur noch in der Disco. Und da lernt sie per Zufall einen Scheich kennen, der sie « fördert » und fordert. Sie verdient gut, doch allzu lang hält das vermeintliche Glück nicht  an. Sie wird von der Polizei verhaftet und kommt wegen illegaler Prostitution für drei Jahre ins Gefängnis…

Saphia Azzeddine hat mit Jbara eine Figur geschaffen, die zeigt wie stark die Unterdrückung, Frauen in Situationen zwingen kann, die zwar durch die Traditionen nicht im Geringsten geduldet werden, aber auch keinen Rückhalt innerhalb der Familientraditionen zulassen und die unflexible Männerdominanz diese nur noch mehr unterstreicht. « Zorngedichte » ist aber auch ein Roman der Sehnsüchte, des Verlangens, des Überlebens und ganz besonders des Hinterfragens. Denn wäre sich Jbara in all ihrem Handeln so rücksichtslos und berechnend sicher, würde sie Allah nicht ständig informieren, um Rat fragen und auch ihn und den Glauben an sich in Frage stellen.

Doch eines der wichtigsten Aspekte in diesem einerseits tragischen, aber irgendwie auch sehr subtil komischen Roman, ist die Erkenntnis darüber, wie wichtig es ist, sich selbst vertrauen zu können, im Hinblick auf die aktuellen Situationen, den Lebensalltag, die Lebensdauer ; und um dadurch nie den Respekt und die Toleranz im Bezug auf Religionen und Glauben zu verlieren. Deshalb ist es wunderbar in diesem Buch zu verfolgen, wie Jbara zwar keineswegs mit ihrem « Ausstieg » aus ihrer alten Welt in dem Dorf Tefafilt zufrieden ist, sie aber Selbstverantwortung übernimmt und nicht mehr selbst ein Opfer all dieser Umstände sein möchte und somit bis zum Schluss nie aufhört, um die wahre Freiheit zu kämpfen.

« Zorngebete » ist nicht nur ein provozierendes Buch, es ist ein äusserst couragierter Roman, ein Werk, das aufrüttelt und zum Nachdenken über Selbstbestimmung der Frauen im Islam anregt. Es ist aber auch ein Plaidoyer über den zeitgemässen und lockereren Umgang mit Glauben und Religion im Allgemeinen. Saphia Azzaddine schreibt in einer Sprache, die von raffiniert eingesetzter Lakonie und nonchalenter Direktheit geprägt ist und somit den Leser herausfordert, den Zusammenhang zwischen Vertrauen und Moral bezüglich Entscheidungen und Lebensorientierung ganz neu für sich zu definieren.

« Zorngebete » lässt viele Fragen offen, bietet dadurch Raum für Reflexionen und ist gerade deshalb ein äusserst bemerkenswertes literarisches Werk, das dafür sorgt, wichtige Einblicke in eine ganz andere Welt durch eine doch gewiss schonungslos offene Weise zu erhalten…



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