Durchgelesen – “Versuch über den Stillen Ort” v. Peter Handke

Ein klein wenig verunsichert betrachtet man den Titel dieses Buches, wundert sich über die Rechtschreibung und fragt sich ganz vorsichtig, warum das Adjektiv « still » in diesem Fall gross geschrieben wird ? Das lässt sich schnell erklären : stille Orte – man beachte die Kleinschreibung – sind Orte, an denen es in der Regel ruhig und lautlos ist , das könnten zum Beispiel Bibliotheken, Kirchen, aber auch Wälder sein. Doch bei Peter Handkes « Stillen Ort » handelt es sich ganz profan um die Toilette oder auch WC genannt. Im gewissen Sinne ist dies auch ein stiller Ort, wenn mal von den üblicherweise dazugehörigen Geräuschen absieht, aber eben in einer etwas anderen Bedeutung. Und genau diese differenzierte Bedeutung des hier behandelten Stillen Örtchens, wie wir es selbst gerne oft nennen, wenn wir die klassischen Begriffe vermeiden wollen, werden wir dank Peter Handke nun in seinem neuesten Werk herausfinden.

Peter Handke wurde am 6. Dezember 1942 in Griffen (Kärnten) geboren. Er wächst bei seiner Mutter, einer Kärntner Solwenin und bei seinem Stiefvater, einem Berliner Strassenbahn-schaffner auf, den seine Mutter bereits kurz vor seiner Geburt geheiratet hatte. Er verbringt die ersten Lebensjahre in Griffen, dann in Berlin Pankow und ab 1948 wieder in Griffen. Seine Schulzeit absolvierte er zu erst an der Hauptschule und wechselte dann auf eigenem Betreiben hin in das beim Priesterseminar angegliederte humanistische Gymnasium in Maria Saal. Doch nach zwei Jahren wurde ihm die katholische Erziehung dort zu eng und er organisierte wiederum selbst einen erneueten Wechsel auf eine andere Schule und machte schiesslich 1961 seinen Schulabschluss (Matura). Bereits während der Schulzeit schrieb er Texte unter anderem für die Internatszeitschrift. Doch nach dem Abitur begann Peter Handke erstmal ein Jurastudium in Graz, obwohl er sich bereits während der Studienzeit immer mehr für das Schreiben, sei es für das Feuilleton eines Grazer Radiosenders in Punkto Rockmusik oder auch für wichtige Buchbesprechungen, engagierte. 1964 begann er mit seinem ersten Roman « Die Hornisse », welcher 1965 aufgrund der Ablehnung durch den Luchterhand Verlag erfreulicherweise von Suhrkamp veröffentlicht wurde. Dies war auch gleichzeitig der Beginn seiner schriftstellerischen Karriere und das Ende seines Jurastudiums. Nach vielen Umzügen (Düsseldorf, Paris, Salzburg) und einer Weltreise Ende der Achtziger Jahre, lebt Peter Handke nun seit 1990 in Frankreich (Chaville). Sein Gesamtoeuvre umfasst eine sehr grosse Auswahl an Gedichten, Theaterstücken, Drehbüchern, Übersetzungen, Romanen und Essays. Peter Handke gehört zu den meist geehrten deutschprachigen Schriftstellern und wurde unter anderem mit dem Georg-Büchner-Preis (1973), dem Schiller-Gedächtnis-Preis (1995), dem Thomas-Mann-Literaturpreis der bayerischen Akademie der Schönen Künste (2008) und dem Nestroy-Theater-Preis (2011) ausgezeichnet. Nach über zwanzig Jahren erscheint nun zur Freude vieler Leser ganz aktuell wieder ein neuer « Versuch » von Peter Handke, eine hoffentlich nicht enden wollende Wiederaufnahme bzw. Weiterführung der jeweils ersten drei « Versuche » über die Müdigkeit, die Jukebox und den geglückten Tag.

In seinem neuen « Versuch über den Stillen Ort » erzählt Peter Handke seine ganz private, ja wahrlich sehr persönliche Geschichte über seine Erfahrungen mit den verschiedensten Stillen Orten und die daraus entstehenden Bedeutsamkeiten. Bereits in der Kindheit erinnert er sich an den « Abort » im Haus des Grossvaters. Am Meisten jedoch blieb ihm das Licht im Gedächtnis :

« Seltsames indirektess Licht, wie nirgends sonst im Haus ; indirekt, das heisst ohne Fenster, dafür umso stofflicher ; Licht, das umgab – von dem man sich in dem Stillen Ort umgeben fand – man ? – ich, also doch schon damals « ich » dort ? »

Auch in seiner Internatszeit ist für ihn der Stille Ort mehr als nur der Ort für gewisse natürliche « Erledigungen », es ist fast schon eine Art Rückzugsort :

« Das Klosett, und nicht nur dies eine in dem Gelände, bedeutete für mich während der Jahre im geistlichen Internat einen möglichen Asylort, wenn ich mich zu dem auch mehr geflüchtet habe. »

Aber der Stille Ort wurde nicht nur ein Fluchtort, er wurde kurz über Hand nach den Lehrjahren auch der spontane und provisorische Übernachtungsplatz für einen noch unbedarften Reisenden. Auch wenn der Sommer damals so seine Reize hatte und ein Schlafen im Freien sehr abenteuerlich erschien, trieb die Nachtkälte den jungen Handke doch eher auf den Bahnhof, wo dann die Müdigkeit ein Schlafgemach forderte:

« Ich schloss mich ein in eine der Kabinen der Bahnhofstoilette, welche sich, wenn auch abseits, irgendwo im Inneren der Anlage befand.
Die Tür war zu öffnen mit einer Schilling-Münze, und als ich sie absperrte, spürte ich erst einmal eine gewisse Geborgenheit oder Aufgehobenheit. »

Er blieb die ganz Nacht über in seinem besonderen « Hotelzimmer », obwohl ihn die Müdigkeit übermannte, wollte er nicht schlafen, aber er wollte diesen Ort auch nicht mehr bis zum nächsten Morgen verlassen.

Erst während seiner Studienzeit verlor der Stille Ort, als « Asylort » seine Bedeutung und wurde von anderen Orten wie Gebäuden, Stätten etc. abgelöst und dabei stellte der Autor noch etwas ganz Anderes, äusserst Bemerkenswertes fest :

« Noch merkwürdiger, dass man, ohne Vorsatz oder gar Plan, die stillen Orte allein aus sich selber heraus schaffen konnte, von Fall zu Fall inmitten eines Tumults (gerade im Tumult), inmitten von dem zeitweise noch ungleich stärker geisttötenden Gerede. Solche Orte bauten sich auf und schirmten einen ab, indem man während der und der Vorlesung die grossen und sogar die weniger grossen Texte, ja, der Literatur las. »

Aber der Stille Ort bekommt trotz der veränderten Bedeutung eine neue Rolle, er wird für praktische Dinge wie Haare waschen eingesetzt, was auch so manche Professoren auf der Fakultätstoilette erledigten. Und nach einer grösseren Stille-Ort-Pause von über zwanzig Jahren, taucht der Stille Ort von einer japanischen Tempelanlage wieder in seinem Gedächtnis auf, und er selbst wundert sich, dass es nicht der Tempel ist, der eine bleibende Erinnerung bei ihm hinterlassen hat, sondern die Tempeltoilette.

Und so verfolgen wir weiter Peter Handkes Reise zu seinen Stillen Orten und erhalten gleichzeitig bezüglich der gestellten Bedeutungsfrage sehr aufschlussreiche Antworten…

« Versuch über den Stillen Ort » ist keineswegs eine Satire, noch wird hier irgendeine Form von Ironie eingesetzt, von der Peter Handke selbst schreibt, dass er dafür nicht so gut geeignet ist. Nein, dieses Werk ist eine Art autobiographisches Essay. Und wer weiss, was « essai » im Französischen bedeutet, nämlich « Versuch », versteht den Titel gleich viel besser. Peter Handke versucht sich, aber auch dem Leser zu erklären, was so ein simpler Ort wie eine Toilette, doch für tiefgehende “Funktionen” hat, ausser der Klassischen, über die wir weder hier sprechen wollen, noch jemals Peter Handke ein Wort darüber verliert, geschweige denn von irgendwelchen Gerüchen etc. schreibt. Es geht hier mehr um eine psychologische bzw. philosophische Relevanz-Analyse. Der Stille Ort ein Flucht-, Asyl- und Rückzugsort, ein Schlafplatz, ein Ort der Reinigung, ein Ort zum Nachdenken, Meditieren, Lesen, sich Besinnen, vor etwas Schützen, des Alleinseins und somit ein wahrer Ort der Ruhe und der Stille.

Peter Handke beschreibt  nicht nur mit seiner unverwechselbaren magischen Sprache diese besonderen “Stillen” Erfahrungen, sondern er spielt quasi auf höchst literarischem Niveau mit den Wörtern, lässt sie zu einer Art Kunstwerk verschmelzen und kreiert dabei ein essayistisches Gemälde von einem « Stillen Ort », wie wir uns als Leser diesen vielleicht in dieser Bedeutungtiefe und Tragweite nie hätten vorstellen können.

Spätestens nach dieser mehr als lebensbereichernden und äusserst eindrucksvollen Lektüre werden Sie, verehrter Leser, Ihren Stillen Ort mit ganz anderen Augen betrachten. Sie werden ihn neu bewerten, ihn in ganz überraschender Form neu schätzen lernen, aber Sie werden auch – dank Peter Handke – feststellen, dass es nicht nur einen einzigen « Stillen Ort » braucht, sondern viele verschiedene,  um stille Orte für sich und bei sich finden zu können!



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