Durchgelesen – „Unverdächtig“ v. Tanguy Viel

Eine Liebe ohne Geld oder Geld ohne Liebe – was ist falsch und was ist richtig ? Bei dieser Frage denkt man sofort an Theodor W. Adorno, der die Antwort auf diese Frage eigentlich mit seinem berühmten Satz «  Es gibt kein richtiges Leben im falschen » bereits beantwortet hat. Diese Sentenz, die übrigens aus der « Minima Moralia » stammt, ist zwischen 1944 und 1947 entstanden und sollte dazu beitragen, die Differenz zwischen richtig und falsch zu bekräftigen und die Wichtigkeit zu verdeutlichen, das Richtige zu erkennen.

« Unverdächtig » ist trotz dieser sicherlich interessanten und nachdenkenswürdigen Anmerkung kein philosophischer Roman. Ganz im Gegenteil,  dieses Buch ist ein ganz verrückter und außergewöhnlicher Thriller, der sich um eine « amour fou » und um einen unerfüllten Traum dreht und vielleicht deshalb ganz unbewusst diesen adorn’schen Aphorismus als Motto hat.

Tanguy Viel, geboren 1973 in Brest – die « Hauptstadt » der Bretagne -, ist einer der aufsteigenden jungen französischen Autoren. Bevor er sich ganz dem Schreiben widmete, arbeitete er in einem Theater in Tours. Er war von 2003 – 2004 Gast in der « Villa Medicis », die als Herberge der « Académie de France » in Italien dient. 2009 erhielt Viel den Prix de la Ville Carhaix für seinen Roman Paris-Brest.

« Unverdächtig » (im Original « Insoupçonnable ») erschien bereits 2006 in Frankreich, wurde als erster Roman in deutsche Übersetzung 2007 veröffent-licht und liegt uns nun in der aktuellen Taschenbuchausgabe vor, die jeden Urlaub – ob auf dem heimatlichen Balkon oder am fernen Strand – zu einem äusserst kurzweiligen und spannungsreichen Erlebnis macht.

Der Roman spielt in einem bretonischen Küstenstädtchen. Die Haupt-protagonisten sind drei Männer und eine Frau. Es geht um menschliche Abgründe, Treue, Verrat, Lügen und Liebe.

Sam und Lise sind ein eher unkonventionelles Paar. Sie arbeitet nachts als Bardame, um Männer zu animieren, zu mehr Alkohol, aber auch zur Liebe. Doch Lise ist im Vergleich zu ihren Kolleginnen konsequent und geht nie bis zu dem eigentlich letzten Schritt. Sam ist unendlich verliebt in Lise. Er selbst trödelt in seinem Leben herum, ist arbeitslos und verbringt die meiste Zeit mit Schlafen und Fernsehen. Er träumt vom grossen Geldregen und von einem besseren Leben mit Lise. Beide würden so gerne in die USA gehen, doch es scheint momentan nur ein Traum zu bleiben.

Bis zu jenem Zeitpunkt, als Lise’s bester Kunde – der Witwer Henri – ihr einen Heiratsantrag macht ! Henri ist ein sehr wohlhabender Auktionskommissar. Kurzum er verkauft edle Antiquitäten und  lebt in einem sehr grossen und eleganten Haus. Er ist quasi ein richtig guter Fang. Lise und Sam schmieden einen Plan :

« Ich erinnere mich an den Klang ihrer Stimme an jenem Morgen, wir beide mit den Ellbogen auf der Fensterbank, wir beide lange Minuten still, all dies schien wie in einem Block zu uns zu sprechen, und unsere Blicke aufeinander geheftet, ich erinnere mich, wie sie irgendwann sagte : Jetzt oder nie, das ist die Gelegenheit Sam. Wie, die Gelegenheit wozu, Lise, die Gelegenheit wozu ? »

Wozu, das ist ganz klar, um endlich ihren Traum zu realisieren. Lise heiratet Henri und Sam, der Geliebte, avanciert zum « falschen » Bruder und Trauzeugen. Ein wahrlich sehr gefährliches Unterfangen, denn Sam und Lise versuchen trotzdem sich immer sehr nah zu sein und begeben sich dadurch mehr und mehr in grosse Gefahr, entdeckt zu werden. Sie haben nämlich eines ganz vergessen, oder sollte man eher sagen einen, den Bruder von Henri : Edouard. In diesem Fall ist er der echte Bruder, er arbeitet genau wie Henri als Auktionskommissar in der gemeinsamen Firma und ist ein leidenschaftlicher Golfer. Sam, der neue « Schwager » wird nun zum Golfpartner des besonders introvertierten Edouard, aber nur für kurze Zeit. Denn Sam und Lise hecken einen in ihren Augen absolut genialen Plan aus : Lise wird entführt und Henri soll Zahlen – eine Million Dollar ! Doch leider klappt die inszenierte Entführung nicht im Geringsten und das vollkommen unvorhergesehene Chaos nimmt einen dramatischen Verlauf…

« Unverdächtig » ist zwar ein sehr schmaler, aber dafür umso genialer Roman, der sich dem Einfluss der sogenannten « Nouvelle Vague », einer ganz besonderen französischen Kinobewegung in den 50 Jahren, nicht entziehen kann. Man denkt sofort an François Truffaut, der sicherlich aus diesem Roman einen subtil spannenden und befreiten Film hätte zaubern können. Tanguy Viel schreibt als wäre er der Kameramann, lässt seinen Ich-Erzähler Sam die Gegenwart und die Vergangenheit gekonnt vermischen, so dass beim Lesen eine visuelle Ästhetik entsteht, die man selten bei Kriminalromanen finden kann. Der Leser wird nicht nur Zuschauer, er erlebt dieses Buch, riecht die Meeresluft und verspürt zunehmend die beklemmende Atmosphäre.

Doch « Unverdächtig » wäre ohne der Übersetzungskunst von Hinrich Schmidt-Henkel nicht das, was wir hier vor Augen haben. Jede Feinheit, jede Stimmung ist wunderbar eingefangen, selbst das, was man zwischen den Zeilen liest, wurde « übersetzt ». Eine herausragende Leistung, die wir als anspruchsvoller Leser wahrlich geniessen können.

« Unverdächtig » ist ein Buch mit Tiefgang, Magie, Thriller-Flair und einem Überraschungscoup. Ein Roman, wo Sätze zu Bildern werden, ausgestattet mit sprachlich und stilistisch feinster Raffinesse und einem meisterhaft aufgebauten Spannungspotential. Dieses Buch lädt ein nochmals über den eingangs erwähnten Satz von Adorno nachzudenken und sich selbst bewusst zu werden, was es bedeutet, das richtige Leben zu führen. Ein brillantes Buch von einem vielversprechenden Autor !



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