Durchgelesen – „Schuld“ v. Emmanuel Bove

Emmanuel Bove, mit bürgerlichem Namen Emmanuel Bobovnikoff, wurde am 20. April 1898 in Paris geboren. Der Vater, ein jüdisch-russischer Lebenskünstler ohne festen Job und die Mutter, ein luxemburgisches Dienstmädchen, trennten sich ab 1910, so dass Emmanuel sowohl bei seinem Vater und als auch bei seiner Mutter lebte. Er besuchte verschiedene Schulen in Genf und Paris. 1915 starb sein Vater. Bove arbeitete als Hilfsarbeiter, Kellner, Taxifahrer und führte ein sehr ärmliches Leben. Während des Militärdienstes lernte er seine späterere Ehefrau, die Lehrerin Suzanne Vallois, kennen. Sie heirateten 1921 und zogen aus finanziellen Gründen nach Österreich, in die Nähe von Wien. 1922 begann er seinen ersten Roman „Mes amis“ („Meine Freunde“) und fing an Groschenromane  zu schreiben – allerdings unter Pseudonym -, um Geld zu verdienen und um schliesslich auch wieder nach Paris zurückkehren zu können. Während er seinen Roman „Mes amis“ endlich beendete, trennte Bove sich von seiner ersten Frau.

Emmanuel Bove lernte die Schriftstellerin Colette kennen, die ihm half seinen Roman in ihrem Verlag zu veröffentlichen. Auch eine Begegnung mit Rilke, welcher von Bove’s ersten Roman total begeistert war, beflügelte ihn so sehr, dass er mehr und mehr Erzählungen und Romane schreiben konnten. Im November 1928 wurde ihm der damals mit 50 000 Francs sehr hochdotierte Prix Figuière verliehen. Sein Leben entwickelte sich rasant weiter, er heiratete ein zweites Mal, eine reiche Bankierstochter, lebte mit ihr in England, musste jedoch wegen ihres Bankrotts wieder nach Frankreich zurückkehren. 1942 floh er wegen Verfolgung nach Algerien, wo er u.a. André Gide und Saint-Exupéry begegnetete. Bove erkrankte schwer an Malaria, kehrte im Oktober 1944 wieder nach Frankreich zurück. Er starb am 13. Juli 1945 in Paris.

Emmanuel Bove’s Werk wurde in den 80ziger Jahren in Deutschland durch die Übersetzungen von Peter Handke bekannt. Die Erzählungen und Romane zeigen vor allem die Schattenseiten des französischen Bürgertums und die Probleme der Gesellschaft.

„Schuld“ wurde 1932 unter dem Originaltitel „Un Raskolnikoff“ veröffentlicht. Inzwischen ist dieses Buch in Frankreich restlos vergriffen und nur noch im besonders ausgewählten antiquarischen Buchhandel erhältlich. Umso mehr kann man sich über diese – erstmals auf deutsch von Thomas Laux hervorragend übersetzte – Wiederentdeckung freuen.

Dieser schmale Roman (gerade mal 90 Seiten) könnte eine kleine und leicht veränderte Form von Dostojewskis „Schuld und Sühne“ sein. Allein der Originaltitel „Un Raskolnikoff“ lässt ganz klare Verbindungen zu dem grossen philosophischen Roman von Dostojewski erkennen. Nur hat Bove in seinem Mini-Roman für das Thema Sühne keinen Platz, da die Schuld keine wirkliche Schuld ist.

Der Roman „Schuld“ spielt im winterlichen Paris und erzählt die Geschichte des armseeligen, unglücklichen und arbeitslosen Pierre Changarnier. Er will unbedingt mit seiner Freundin Violette das Glück finden. Sie streunen durch das kalte verschneite Paris, obwohl er krank ist und Fieber hat. Er ist so schwach, er friert und sie suchen sich ein Café, um sich aufzuwärmen. Changarnier versucht Violette zu erklären, dass sich etwas ändern muss in seinem Leben:

„«Violette», sagte er, «eines ist sicher, dieses Leben kann so nicht weitergehen. Jeder Mensch auf der Welt hat Geld, Liebe, Vergnügen, bloss wir nicht. Jeder Mensch kommt, geht, lebt, bloss wir nicht.» Changarnier schlug mit der Faust auf den Tisch. «So kann das nicht weitergehen.» Violette sah ihn erschrocken an. Protest war ihrer einfachen Seele fremd.“

Sie diskutieren, er überlegt, was er machen könnte. Sich bei der Fremdenlegion bewerben oder als Mann am Projektor in einem Kino arbeiten. Er träumt von festem Gehalt, oder doch lieber nicht arbeiten, da vielleicht der Spass daran fehlen könnte. Changarnier wird aufbrausend, stürmisch und wirft ein Glas zu Boden. Der Wirt verlangt, dass er den Schaden begleicht. Doch Changarnier will nicht zahlen, denn er braucht das Geld fürs Kino. Der Wirt ist wütend, jedoch nur kurz, denn Changarnier verblüfft ihn mit diesem Satz:

„«Komm schon, reg Dich ab, nimm deinen Hut und geh mit uns dem Glück entgegen.»“

Changarnier und Violette verlassen das Café, werden jedoch von einem kleinen Mann verfolgt, der sie nicht in Ruhe lässt, bis er ihnen seine Geschichte erzählt. Die Geschichte eines Mordes und eines Mörders, der nie bestraft wurde. Changarnier spürt währenddessen Erinnerungen aufsteigen, die auch ihn zum Mörder werden lassen. Oder sind es nur Halluzinationen oder Phantasien? Er wird festgenommen und befindet sich plötzlich auf dem Kommissariat. Aber ist er wirklich ein Mörder?

Und jetzt ist der Leser gefordert! Wer hat Schuld? Kann ein Mensch Schuld haben, auch wenn ihn keine Schuld trifft. Hat ein Mörder Schuld, auch wenn die Tat nie bestraft wurde? Ist Reue vielleicht auch eine andere Form von Schuldanerkenntnis? Der Leser befindet sich in den Fängen zwischen Schuld und Sühne und versucht daraus möglichst schnell zu entkommen, in dem er sich auf diesen besonderen Roman einlässt. Bove zeigt uns die menschliche Tragödie mit seinen meisterhaft knapp, aber trotzdem intensiv porträtierten Hauptfiguren. Bove bedient sich einer glasklaren Sprache, die Moral, Mitleid und Erlösung in atemberaubender Weise darstellt. „Schuld“ ist ein subtil dramatischer, äusserst spannender und literarisch höchst anpruchsvoller Roman! Seien Sie neugierig auf dieses kleine feine Buch, das den deutschprachigen Leser mit einer grossen und bewegenden Neuentdeckung beschenkt!



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