Durchgelesen – „Liebe“ v. Molly McCloskey

Die Liebe ist ein ganz besonderes Phänomen. Sie kommt entweder plötzlich und ganz heftig oder sie entwickelt sich aus Freundschaft langsam und stetig. Sie kann sich aber auch schleichend zurückziehen, um sich letztendlich sogar wieder vollkommen zu verabschieden. Liebe muss nicht automatisch ein starkes, lautes und euphorisches Gefühl sein. Liebe kann auch ganz dezent, leise und sehr diskret auftreten. Doch bei all diesen verschiedenen Liebesformen spielen Sehnsucht, Verzweiflung, Unglück und Trauer oft eine grosse Rolle.

Und genau von dieser, einer gar nicht kitschig-romantischen und gute Laune versprühenden, sondern eher melancholischen, schwierigen und erloschenen Liebe, erzählt uns Molly McCloskey in ihren aussergewöhnlichen und sehr zum Nachfühlen und Nachdenken anregenden Geschichten.

Molly McCloskey wurde 1964 in Philadelphia geboren und wuchs in Oregon auf. 1989 zog sie nach Irland, lebte zuerst zehn Jahre an der Westküste  und wohnt inzwischen in Dublin. Während ihrer Zeit in Irland arbeitete sie als freie Journalistin. Von 2006 bis 2007 war sie für die Vereinten Nationen in der Koordination von Hilfsgütern für Somalia tätig. 1997 erschien ihre erste Kurzgeschichten-Sammlung mit dem Titel « Solomon’s Seal » und 2002 folgte ihr zweiter Erzählungsband unter dem Titel «The Beautiful Changes ». Dank der herausragenden Übersetzung von Hans-Christian Oeser, der unter anderem auch F. Scott Fitzgerald und Ian McEwan ins Deutsche übertragen hat und 2010 für seine Arbeit mit dem Heinrich Maria Ledig-Rowohlt-Preis ausgezeichnet wurde, dürfen wir die wunderbaren Erzählungen von Molly McCloskey nun erstmals in deutscher Übersetzung lesen. Der Band « Liebe » ist eine Auswahl aus den beiden Short-Stories-Sammlungen, für welche Molly McCloskey mit eine Fülle von literarischen Preisen prämiert wurde.

« Liebe », das sind elf bemerkenswerte Erzählungen, die eine ganz andere Liebe beschreiben, welche der Leser bei diesem sehr vielversprechenden Titel erwarten würde. Es geht hier nicht um irgendwelche sorglosen Traumwelten und Liebesillusionen. Wir lesen von eher unaufgeregten Beziehungen, realen Problemen, von Menschen, die sich nach Liebe sehnen, Liebe erleben und Liebe verlieren. Und wir lernen Paare kennen, die versuchen ihre kleines zwischenmenschliches Glück noch zu erhalten, obwohl sie durch einen Schicksalsschlag lernen mussten, die Liebesflamme nicht auslöschen zu lassen.

Diese besonders schwierige Lebenserfahrung zeigt vor allem die beeindruckende Titelgeschichte : ein Paar glücklich liebend bis zu dem Zeitpunkt, als sie ihr gemeinsames Kind in einem Bach – mit dem Gesicht im Wasser liegend – tot auffinden. Es geht um Schuld und Versäumnis. Doch trotz des unfassbaren Verlustes und Schmerzes, versuchen die Eltern ihre erschütterte und noch kleine Liebe zu bewahren. Ein traurige Geschichte, die den Leser trotz der Tragik nicht im Geringsten mit seinem Schmerz überrollt. Ganz im Gegenteil denn die Autorin kann mit ihren klaren und doch sensibel geführten Sätzen ganz vorsichtig einen Hoffnungsschimmer erzeugen, der dieses Paar vielleicht zu einem anderen und neuen Liebesglück führen könnte…

In der Erzählung « Polygamie » zeigt uns Molly McCloskey das Lieben und Leiden eines – was die Seele betrifft – gebildeten Mannes. Er ist Hochschuldozent für Psychologie, er fühlte sich immer umgeben von Frauen und « konsumierte » viele Liebhaberinnen. Doch jetzt nach der Trennung von seiner Frau, die kognitive Verhaltenstherapeutin ist, verliert er irgendwie den Boden unter den Füssen :

« In der darauf folgenden Woche irrt er nicht einmal mehr durch die Strassen, er weint nur noch. Wogen der Traurigkeit durchfluten ihn, so riesig, dass er nicht glauben kann, ihr Ursprung zu sein. Er empfindet den Kummer von Jahrhunderten, von ganzen Völkern und Nationen angesichts von Naturkatastrophen. Er trauert um eine vergangene Version seiner selbst, seines Ichs, das vom Vorhandensein eines so überwältigenden Kummers nichts wusste. »

Auch Männer leiden, ziehen sich zurück und weinen. Eine Erkenntnis, welche Frauen doch manchmal zu vergessen scheinen. Dieser Mann versucht jedoch sein Leiden zu beenden, holt sich von aussen Hilfe, geht zu einem Arzt und taucht ganz langsam wieder aus seinem tiefen Loch heraus. Und dann gibt es vielleicht sogar vollkommen unverhofft wieder Platz in seiner Seele für eine neue Liebe…

Molly McCloskey schreibt in einer faszinierend schonungslosen, aber trotzdem sehr feinfühligen und würdevollen Weise über das allzu menschliche Gefühl Liebe. Sie beobachtet ihre Figuren und Protagonisten wie ein Vogel, der über ihnen auf der Jagd nach Nahrung kreist. Sie öffnet ganz andere Türen im chaotischen Liebes – Gebäude, die nicht nur Glück und Rausch verstecken, sondern bewusst das Leiden und die schmerzvolle Traurigkeit präsentieren, ohne aber nie den letzten Hoffnungsschimmer auf neue und veränderte Liebesgefühle zu verlieren.

« Liebe » das ist sicherlich einer der schönsten Geschichten-Sammlungen der letzten Jahre – ein Buch über kleine und grosse Liebesdramen, die den Leser keinesfalls deprimieren, sondern auf ganz subtile Weise sehr stark fesseln. Selten werden wir mit solch berauschender Poesie beschenkt. Molly McCloskey ist eine psychologische Wortzauberin. Jede einzelne Geschichte erfährt durch ihre Sprachkunst eine ganz ungewöhnliche grazile Spannung und Anziehungskraft, die es uns leicht macht, die von ihr charakterisierten Liebesschicksale nicht nur berührt zu verfolgen, sondern auch literarisch in vollsten Zügen zu geniessen.

Diese Erzählungen schmecken wie Zartbitter-Schokolade : ein wenig herb und sanft zugleich. Liebhaber besonderer Literatur werden begeistert sein und Verehrer von Alice Munro, der kanadischen Erzählerin, fühlen sich sofort an ihre Geschichten erinnert. McCloskey ist ein ganz grosses Erzähl-Talent, das Sie, als Leser nun glücklicherweise mit diesen wunderbaren « Liebes-Geschichten » entdecken können !



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