Walter Benjamin hat 1929 die Neuausgabe des « Le flâneur des deux rives » (erstmals erschienen 1919) unter dem Titel « Bücher, die übersetzt werden sollten » in der Frankfurter Zeitung rezensiert. Jetzt erscheint dieses Werk von Guillaume Apollinaire mehr als 80 Jahre nach Benjamins Anregung endlich zum aller ersten Mal in deutscher Übersetzung.
Guillaume Apollinaire wurde am 26. August 1880 in Rom geboren und starb am 9. November 1918 in Paris. Er war ein französischer Autor polinisch-italienischer Abstammung, der durch seine aussergewöhnliche Lyrik, welche zu den bedeutendsten der französischen Literatur Anfang des 20. Jahrhunderts zählt, berühmt wurde. Seine Kindheit verbrachte Apollinaire noch in Rom, sein Schulzeit erlebte er bereits in Monaco, wohin die Mutter gezogen war, nachdem sich ihr Geliebter – ein hochrangiger Offizier – von ihr getrennt hatte. Ab Anfang 1899 kam es zum nächsten Umzug, diesmal nach Paris, was wieder durch einen neuen Liebhaber der Mutter ausgelöst wurde.
Die Lehrjahre in Paris waren nicht einfach. Ohne jeden Schulabschluss, denn er hatte das Abitur nicht abgelegt, versuchte er sich mit einfach Jobs über Wasser zu halten, arbeitete als « Ghostwriter » und schrieb Gedichte und Erzählungen. Er reiste ein Jahr – inspiriert durch eine Französischschülerin – durch verschiedene Länder unter anderem auch nach Deutschland (Berlin u. Dresden).
Ein Wendepunkt ist sicherlich das Treffen im Jahre 1905 mit Picasso, welcher Apollinaire die Tür zu dem Kreis der Pariser Avantgarde-Maler öffnete. Der Austausch über Kunst faszinierte ihn so sehr, dass er sich mehr und mehr als Kunstkritiker fühlte. 1912 erschien seine berühmte Lyriksammlung unter dem Titel « Alcool », die jedoch erst nach seinem Tode zu einem bis heute anhaltenden Erfolg wurde. 1914 meldete sich Apollinaire gleich nach Beginn des 1. Weltkrieges aus lauter Begeisterung darüber freiwillig zum Dienst. 1915 war er dann endlich an der Front und ein Jahr später wurde er leider durch einen Granatsplitter an der Schläfe schwer verletzt und musste mehrmals operiert worden.
Sein letztes Buch « Flaneur in Paris », was er noch vor seinem Tod vollendete, aber erst einige Monate später nach seinem Tod erschienen war, wurde jedoch bereits 1918 durch einen befreundeten Verleger als Projekt vorbereitet.
« Flaneur in Paris » sollte eigentlich ein Roman werden, aber Apollinaire hatte seinem Verleger einfach die letzten feuilletonistischen Textes aus den Jahren 1910-1918 gegeben.
« Flaneur in Paris » ist demnach eine Art Sammlung von zehn Geschichten, die uns in Form von literarischen Spaziergängen durch das Paris Anfang des 20. Jahrhunderts führen. Es beginnt mit « Erinnerungen an Auteuil » damals noch ein Vorort von Paris, inzwischen liegt Auteuil im 16. Arrondissement. Apollinaire wohnte von 1909 – 1913 in Auteuil, weil seine Freundin, die Malerin Marie Laurencin, dort lebte. Er beschreibt die Strassen und die Häuser, und wundert sich, dass nichts mehr so ist wie zu Balzacs Zeiten.
In den weiteren Geschichten wie zum Beispiel « Die Buchhandlung von Monsieur Lehec », die sich um einen Buchhändler dreht, der seinen Bücher nicht wirklich verkaufen möchte, lernen wir das Pariser Verleger- und Buchhändlerleben kennen. Apollinaire erzählt aber auch von Künstlern und Dichtern, die in der Nähe der Rue de Buci – eine Strasse im Viertel Saint-Germain des Près – gelebt haben. Er führt uns auch noch in das Viertel um den Place Pigalle und an die grossen Boulevards, wo er in einem Café den Autor Ernest La Jeunesse kennenlernt.
In der Geschichte « Die Quais und die Bibliotheken » begleitet uns Apollinaire – obwohl er schreibt :
« Ich gehe möglichst selten in die grossen Bibliotheken. Lieber spaziere ich über die Quais, diese herrliche öffentliche Bibliothek. »
- nicht nur durch Pariser Bibliotheken, sondern auch durch besondere und beeindruckende Bibliotheken Frankreichs und verschiedenster anderer Länder, die er während seiner Reisen besucht hatte. Dabei entdeckt er immer wieder neue Werke, Verzeichnisse und sogenannte « Phantasie-Kataloge » unter anderem mit fiktiven Büchern, die ihn nicht nur zum staunen, sondern auch zum Schmunzeln bringen. Doch letztendlich ist er – um wieder auf Paris zurückzukommen – nur davon überzeugt :
« Kann man in Paris einen schöneren Spaziergang machen ? Wenn man Zeit hat, sollte man für das Stück von der Gare d’Orsay zum Pont Saint-Michel ruhig einen ganzen Nachmittag einplanen. Es gibt auf der ganzen Welt bestimmt keinen reizvolleren, keinen angenehmeren Spaziergang. «
Und damit hat er sicherlich Recht, auch wenn sich als einzige kleine Veränderung nach fast hundert Jahren der Gare d’Orsay sich in das Musée d’Orsay verwandelt hat. Genauso wie es Apollinaire uns hier beschreibt, können wir heute noch diesem Weg folgen : entlang der Seine, mit Blick auf den Louvre auf der anderen Seine-Seite, vorbei an dem Institut de France, weiter an der Seine von der Pont-des-Arts über Pont Neuf zum Pont Saint Michel.
Diese literarischen Streifzüge sind etwas ganz besonderes. Apollinaire ist immer auf der Suche nach dem Ungewöhnlichen und leicht Skurrilen, auch wenn alles im ersten Augenblick eher etwas beschaulich und harmlos aussieht. Man spürt bei jeder dieser Geschichten, die wahre Poesie und den Lyriker. Aber auch das Mystische und Surreale wird keineswegs vernachlässigt. Kurzum dieses 120 Seiten starke Büchlein, das durch hervorragende Erläuterungen und einem äusserst informativen Nachwort des Übersetzers Gernot Krämer ergänzt wurde, ist ein echtes Bijou der französischen klassischen Literatur. Deshalb freut es uns um so mehr, es endlich nach so langer Zeit in dieser herausragenden Übersetzung lesen zu dürfen.
« Flaneur in Paris » ist eines der schönsten Bücher und einer der wenigen Klassiker, der in den letzten Jahren in Deutschland neu im Sinne der Erstübersetzung erschienen ist. Der Leser hat nun zwei wunderbare Möglichkeiten: er kann nun auf den Spuren von Apollinaire durch Paris schlendern und von dieser Stadt träumen, aber er kann auch mit diesem Buch auf den Spuren von Apollinaire in Paris bummeln und diese Stadt in vollen Zügen geniessen.