Durchgelesen – “Die Kunst des Wartens” v. Catherine Charrier
By durchleser on 29. Juni 2015
Das „Warten“ kann so viele Bedeutungen haben, dass man nicht immer genau sagen kann, ob das „Warten“ nun eher positive oder negative Dinge vermittelt. Wer wartet schon gerne auf etwas und empfindet dabei ein eher wohliges und vielleicht sogar meditatives Gefühl. Selten wird dies eintreffen, aber es ist durchaus möglich. Doch wenn wir nicht nur durch das Warten Gefühle erzeugen können und wollen, so ist es um so schwieriger aufgrund von Gefühlen oder wegen Gefühlen zu warten. In Liebesbeziehungen hat das Warten eine nochmals ganz andere Bedeutung und kann zu unglaublich überraschenden Wendungen führen. Und was das Warten nun in Liebesangelegenheiten auslöst, zeigt uns Catherine Charrier äusserst ausdrucksstark in ihrem Erstlingsroman „Die Kunst des Wartens“.
Catherine Charrier, geboren 1961 in Alençon, studierte Kunstgeschichte und Kunst an der École du Louvre. Sie arbeitet in Paris im Bereich der Werbung. „Die Kunst des Wartens“ wurde in Frankreich 2012 unter dem Titel „L’Attente“ veröffentlicht und ist nun dank der wunderbaren Übersetzung von Claudia Steinitz aktuell in deutscher Sprache erschienen.
Die Geschichte spielt hauptsächlich in Frankreich, in verschiedenen Städten, wie beispielsweise Nantes und Paris. Die Hauptprotagonisten sind Marie, eine moderne, selbständige und verheiratete Frau mit zwei Kindern, und Roch, ein ebenfalls verheirateter Mann mit einem Kind. Beide kennen sich durch ihre Arbeit und haben ein Verhältnis. Roch kündigt seiner Geliebten Marie an, dass er seine Frau verlassen und sie heiraten wird, sollte ihre Affäre noch ein Jahr überdauern. Marie ist überrascht, konnte sich dazu nicht einmal äussern und entscheidet sich vollkommen unvorhergesehen, ein Jahr zu warten. Sie zählt ab sofort die Tage (X plus). Das Warten wird zum Inhalt ihres Lebens: sie organisiert alles um dieses Warten herum, ihren Beruf, ihren Mann, ihre Kinder und sich selbst. Denn das Warten ist mehr, als nur das Warten auf einen Anruf oder auf ein Treffen mit Roch:
„Das Warten ist eine Geschichte von sich erlauben und sich verbieten. Das Warten ist beherrschend. Man unterwirft sich ihm, seine Belanglosigkeiten werden zum Zwang.“
Jede Gelegenheit versucht Marie zu nützen, um sich mit Roch zu treffen. Doch Paul, Maries Mann, merkt, dass Marie sich verändert, zum Telefonieren beispielsweise die Garage aufsucht und somit unsicher wird. Marie zerstreut alle Zweifel von Paul und plant das nächste Tête-à-Tête mit Roch. Und dann passiert es. Marie merkt nicht, dass das Jahr, dieses eine Jahr, das sie warten wollte, bereits seit längerer Zeit schon vorbei ist. Inzwischen bei Tag X plus 498 angekommen wird die Affäre immer noch ausgelebt. Die Begegnungen häufen sich, da sie beide jetzt auch noch im Verhältnis Unternehmen = Marie und Kunde = Roch zusammenarbeiten und immer weniger von einander lassen können. Das Warten wird unbewusst verlängert und dadurch schleicht sich eine Angst ein, die anfängt zu dominieren, obwohl die Lust bis zu diesem Zeitpunkt immer noch stärker ist.
Marie wartet weiter unbewusst oder auch bewusst. Die Tage verstreichen und die Seele von Marie rebelliert. Seit einer gewissen Zeit muss sie sich ständig übergeben, selbst wenn sie mit Roch zusammen ist oder mit ihrem Mann. Liegt es daran, dass sie sich nicht entscheiden kann, weder für den einen noch für den anderen Mann? Marie ist nicht mehr in der Lage ihr Gefühls- und Liebesleben gut selbst zu steuern. Sie kann weder von Roch lassen und sich zu ihrem Mann bekennen, oder sich von ihrem Mann trennen und frei für Roch zu sein. Und ausgerechnet dann wird auch noch ihrem Mann ein neuer Job in Paris angeboten:
„Heute reisst mich ein Mann aus Nantes weg, mein Ehemann, während ein anderer nicht imstande ist, mich hier zu halten.“
Das Warten wird zur Hauptaufgabe für Marie, die Tage rennen vorüber und nichts hat sich geändert, oder vielleicht doch? Sie lebt jetzt in Paris und Roch nach wie vor in Nantes, doch bald wird auch Roch nach Paris fahren…
Catherine Charrier schreibt in ihrem Erstlingsroman mit einer wahrlich präzisen und gleichzeitig so unglaublich sensiblen und empathischen Feder, dass bereits zu Beginn der Lektüre eine Faszination von diesem Buch ausgeht, der man sich nicht entziehen kann. Mit sprachlicher Raffinesse werden die eingefügten Sequenzen über das Warten aus der ganz persönlichen Sicht von Marie zu einem fast schon philosophischen Leseerlebnis. Aber auch die durchdringende Lustbesessenheit kombiniert mit der mehr und weniger dominierenden Angst geben der Euphorie und der Hoffnung ein nicht kaum zu erreichendes Ziel.
„Die Kunst des Wartens“ zeigt ein so bewegendes und aufwühlendes Psychogramm einer Frau, die sich nach Liebe sehnt und ein Gefühl des Wartens erhält und lebt. Dieses Buch ist keine simple Lovestory zwischen einer Frau und zwei Männern. Es ist ein so emotional klug konzipiertes Stück Literatur, das den Leser nachhaltig zum Nachdenken anregt und das Begehren und die Lust in eine ganz neue und absolut authentische Form, nämlich die des „Wartens“ mit ehrlicher Direktheit und charmanten Fingerspitzengefühl, verwandelt.
Catherine Charrier hat mit ihrem Erstlingsroman absolutes Schreibtalent bewiesen, in dem sie klar dem Leser vor Augen führt, wie wenig sich die Schnelllebigkeit und das Alltägliche in unserer Zeit mit besitzergreifender Liebe und besessener Leidenschaft weder erleichtern, geschweige denn verdrängen lässt. „Die Kunst des Wartens“ ist ein wunderbares Buch über Liebeslügen und Gefühlsabhängigkeiten, das dem Leser ganz subtil die richtigen Fragen stellt und ihm gleichzeitig die Freiheit gibt, sie ganz für sich allein zu beantworten.
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Kategorien:Bücher, Durchgelesen, Frankreich, Literatur, Psychologie
Schlagworte: Abhängigkeit, Affäre, Angst, Catherine Charrier, Liebe, Warten