Durchgelesen – “Der Fall Sneijder” v. Jean-Paul Dubois
By durchleser on 10. November 2014
Wie tief kann man als Mensch fallen? Fällt man nur im übertragenen Sinne oder fällt man ganz real, quasi körperlich spürbar? Und wenn man diesen Fall zumindest physisch überlebt, aber alles andere um sich herum einstürzt – was passiert dann? Jean-Paul Dubois widmet sich mit seinem gerade in Deutschland aktuell erschienen Roman diesen Fragen und versucht ganz vorsichtig dabei Antworten oder auch neue Fragen zu finden!
Jean-Paul Dubois, geboren 1950 in Toulouse, gehört in Frankreich zu den wichtigsten französischen Schriftstellern der Gegenwart. Er studierte Soziologie und arbeitete als Journalist für das Sportressort von „Sud Ouest“ und wurde später Hauptberichterstatter beim „Nouvel Observateur“. Sein Werk umfasst 15 Romane, Essays, Novellen- und Artikelsammlungen. 2004 wurde er für seinen Roman „Une vie française“ mit dem Prix Femina und dem Prix du Roman Fnac geehrt. 2012 wurde Jean-Paul Dubois mit dem Literaturpreis Alexandre Vialatte für seinen Roman „Le Cas Sneijder“ ausgezeichnet, der bereits 2011 in Frankreich erschienen ist und nun – dank der hervorragenden Übersetzung von Nathalie Mälzer – endlich in Deutschland entdeckt werden kann.
Der Roman spielt in Kanada – genauer in Montréal. Der Hauptprotagonist ist Paul Sneijder, inzwischen 60 Jahre alt, zum zweiten Mal verheiratet, Vater einer Tochter aus erster Ehe und zusammen mit seiner jetzigen Frau Anna Erziehungsberechtigter von zwei erwachsenen Söhnen (Zwillinge). Paul Sneijder, dessen Vater Holländer und seine Mutter Französin war, schwärmt heute noch von seiner guten Beziehung zu seinen Eltern und ist inzwischen ein Mann geworden, der durch und mit seinen Erinnerungen lebt:
„Ich kann nichts vergessen. Es mangelt mir an der Fähigkeit, Dinge auszulöschen, an jener Fähigkeit, die uns von der Vergangenheit befreit“.
Und so berichtet uns Paul Sneijder detailliert aus seiner Vergangenheit dramatisch ausgelöst durch einen Tag, der sein Leben komplett verändert, auf den Kopf gestellt hat und ihn auch durch immer neue Abgründe weiterführen wird, auch wenn er oft glaubt, inzwischen eine neue Lebens- oder sollte man nicht besser sagen, Überlebensstrategie gefunden hat.
Dieser Tag war der 4. Januar 2011. Genau um 13.12 Uhr Ortszeit stürzt der Aufzug in einem Montréaler Hochhaus 28 Stockwerke in die Tiefe. Paul ist der einzige Überlebende dieses Unfalls, seine Tochter Marie, die er begleitete, war sofort tot, sowie drei weitere Fahrgäste. Dieser Sturz in den Abgrund ist mehr als ein tiefer Fall, nicht nur im körperlichen, sondern auch im psychologischen, gesellschaftlichen und privaten Sinne dieses Mannes, der sich der Dominanz seiner zweiten Frau Anna nicht widersetzen kann. Nachdem er aus dem Koma erwacht ist, lässt er sein Leben, ja seine ganze Existenz Revue passieren. Nach einem sehr langen Krankenhausaufenthalt kehrt er in sein Haus zu Anna zurück, er sperrt sich mehr oder minder in sein Zimmer/Büro ein, das er nun endlich mit seiner Tochter bzw. deren Asche in einer Urne teilen darf. Denn bis zu dem Unfall war es Paul nicht erlaubt, Marie mit nach Hause zu nehmen. Anna hatte es verboten, sie wollte auch keinen Kontakt zwischen den Zwillingen. Anna war Holländerin, sehr praktisch veranlagt und hatte eine Führungsposition bei einem kanadischen Telekommunikations-unternehmen:
„Zudem brüstet sie sich damit, stets genau zu wissen, was das Richtige für uns ist, und lässt es einen bei jeder Gelegenheit spüren.“
Nachdem nun Paul auch seine gut bezahlte Stelle als Weineinkäufer wegen Panikattacken in Büroräumen aufgegeben hatte, versuchte er nach diesem dramatischen Ereignis trotzdem irgendwie einen Fuss wieder in diese Welt – vor allem ohne Marie – zu setzen und begann ja fast schon besessen alle Arten von Dokumente über Aufzüge allgemein und Unfälle mit Aufzügen zu studieren bzw. zu sammeln. Gleichzeitig suchte er eine neue Aufgabe, die seiner geringen Qualifizierung entspricht. Paul entdeckt in den Stellenanzeigen einen neuen Job und wird fortan Hundeausführer, ein sogenannter Dogwalker. Obwohl er dies noch nie gemacht hatte, keine signifikanten Erfahrungen diesbezüglich nachweisen konnte, wurde er eingestellt und erfährt eine interessante und durchaus überraschend angenehme Zuneigung zu den Hunden. Doch dieser neue Job verschärft die bereits schon lange angespannte Beziehung mit seiner Frau Anna und den Zwillingssöhnen, die in Frankreich inzwischen als erfolgreiche Steuerberater arbeiten, und führt Paul in eine kaum mehr selbst zu koordinierende Position, mit welcher weder Paul noch der Leser gerechnet haben…
„Der Fall Sneijeder“ ist ein faszinierendes Porträt eines Mannes, dem das Schicksal mehr als übel mitspielt. Man könnte weinen und lachen gleichzeitig und weiss nicht, ob man mehr Mitleid haben sollte, oder doch am Liebsten Paul ins Ohr flüstern würde, er möge sich nicht alles gefallen lassen vor allem von Anna. Doch Paul wehrt sich auf seine Weise, die man verstehen kann, aber nicht unbedingt akzeptieren muss.
Obwohl der Roman von einer gewissen Melancholie begleitet wird, schafft es Jean-Paul Dubois mit unvergleichlichem Charme diese Geschichte mit einer gehörigen Portion Humor zu unterwandern, die wir selten in der Literatur vorfinden. Denkt man allein an die unglaublich drolligen Szenen und sehr lustigen Personen, wie zum Beispiel den Dogwalker-Chef und den jeweiligen Hundebesitzern, wird man als Leser von der doch eher dramatisch umwobenen Handlung in einer ganz andere, vor allem einfachere und scheinbar leichtere Welt kurzfristig sehr galant entführt.
Letztendlich ist der herabstürzende Fahrstuhl mehr als nur das Objekt, durch welches Paul zwar schwerverletzt körperlich überlebt, aber gleichzeitig vieles andere in ihm gestorben ist, eine wunderbare Metapher für den wahrlich tiefen Fall, den jeder Mensch vielleicht einmal in seinem Leben zum Teil oder auch ganz erleben darf bzw. muss. Denn ohne Absturz gibt es wahrscheinlich auch keinen Aufstieg und keine Rettung. Auch wenn dieser Neuanfang sich nicht gleich so gestaltet, wie sich das Paul in diesem Buch oder auch wir uns, als Leser, oft vorgestellt haben bzw. vorstellen, hat dieses Aufstehen nach einem Fall doch vermeintlich viele positive Impulse, die es heisst sinnvoll, aber auch vorsichtig zu nutzen und für sich langfristig gewinnbringend einzusetzen. Dank diesem neuen Roman von Jean-Paul Dubois finden wir genau jenen neuen Umgang. Philosophisch ummantelt und trotzdem klar formuliert, mit anekdotischen Einflüssen und einer sensibel eingesetzten Komik lehrt uns dieser „Fall Sneijder“, wie wichtig es ist, nicht nur tief zu fallen, sondern den Absturz auch in der Seele zu zulassen, um sich danach aus vielen Zwängen endlich befreien zu können.
„Der Fall Sneijder“ ist sprachlich gesehen ein so feines, elegantes, intensives, ja spannendes und sehr ergreifendes Buch, das uns Lesern mit Hilfe der ganz pragmatischen Aufzugstechnik eine Wahrnehmungsebene öffnet, von deren Existenz wir vor dieser Lektüre niemals im Ansatz geträumt hätten, und was Paul Sneijder nicht besser in diesem Roman wie folgt bestätigen kann:
„Wenn der Aufzug tatsächlich das Herzstück dieser Welt darstellt, kann man ihn nur stoppen und zur Vernunft bringen, wenn man seine Nervenbahnen lahmlegt, seine Tragseile durchschneidet.“
Verehrter Leser, steigen Sie ein in den nächsten Aufzug, nehmen Sie diesen mehr als empfehlenswerten Roman mit und mögen Sie, wann und wie tief auch immer Sie jemals fallen sollten, in jeglicher Hinsicht mit Paul Sneijders lang nachwirkenden und sehr bewegenden Erkenntnissen weich und sicher landen!
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Kategorien:Bücher, Durchgelesen, Frankreich, Literatur
Schlagworte: Absturz, Aufzug, Existenz, Jean-Paul Dubois, Kanada, Melancholie, Montréal, Unfall