Durchgelesen – “Das Papierhaus” v. Carlos Maria Dominguez

Bücher haben Macht! Sie können das Leben bestimmen, verändern und massgeblich beeinflussen, selbst dann, wenn wir es als Leser gar nicht bewusst zulassen wollen. Und genau über diese doch eher unterschätzten „Charakterzüge“ des Buches berichtet uns Carlos Maria Dominguez in seiner Erzählung „Das Papierhaus“.

Carlos Maria Dominguez, geboren 1955 in Buenos Aires, gehört zu den wichtigsten und berühmtesten Schriftstellern Lateinamerikas und hat laut der Zeitung „Der Welt“ mit seinem Romanwerk „Literatur von Weltrang“ geschaffen. Anfangs hat er für verschiedene Zeitungen als auch für die Kulturbeilage von „El Pais“ geschrieben. Inzwischen wurden von Carlo Maria Dominguez mehr als 20 Bücher veröffentlicht. In Deutschland wurde er mit seinem kleinen feinen Werk „Das Papierhaus“ bekannt, das unter dem Originaltitel „La casa de papel“ 2002 erschienen ist und zum ersten Mal in deutscher Übersetzung 2004 in Deutschland vorgestellt wurde. Jetzt nach 10 Jahren ist dieses faszinierende Buch nochmals neu und aktualisiert aufgelegt und mit den wundervollen Illustrationen von Jörg Hülsmann ausserordentlich feinsinnig und beeindruckend kunstvoll gestaltet worden.

Die Geschichte wird von einem jungen Literaturdozenten der Universität Cambridge in der Ich-Form erzählt und spielt in Südamerika. Eine junge Kollegin von ihm – Bluma Lennon – wird, als sie mehr als vertieft in einem Gedichtband von Emily Dickinson liest, von einem Auto erfasst und dabei tödlich verletzt. Bei der Beerdigung erfährt man nicht nur etwas über ihre brillante Universitätslaufbahn, sondern auch über ihre intensive Nähe zur Literatur, die doch auch etwas überspitzt von einem anderen Kollegen dargestellt wird:

« „ Bluma hat ihr Leben der Literatur geweiht, ohne sich vorzustellen, dass sie durch diese ums Leben kommen würde.” »

Doch letztendlich sollte man nicht vergessen, dass – auch wenn Bücher das Schicksal nachhaltig verändern können – sie ein Auto überfahren hat und nicht der Gedichtband.

Nach diesem tragischen Vorfall fällt eines Tages dem Ich-Erzähler ein Päckchen in die Hand, frankiert mit Briefmarken aus Uruguay, was an Bluma adressiert war. Beim Öffnen entdeckt er « das zerlesene alte Exemplar von Joseph Conrads Roman Die Schattenlinie ». Das Buch war vollkommen verdreckt und verklebt mit Zementresten. Beim Aufklappen sieht er eine Widmung von Bluma:

« „Für Carlos als Andenken an die verrückten Tage in Monterrey: ein Roman, der mich von Flughafen zu Flughafen begleitet hat. Es tut mir leid, aber in meiner Seele wohnt eine Hexe und ich habe es sofort gewusst: Egal was Du tust, Du wirst mich nie überraschen können. 8. Juni 1996.“ »

Der Ich-Erzähler startet seine Nachforschungen, hinsichtlich dieses mysteriösen Mannes. Nach einiger Zeit und mit Hilfe verschiedenster Kontakte wird das Geheimnis gelüftet: es handelt sich um einen bibliophilen Mann namens Carlos Brauer, der inzwischen in eine eher verlassene Gegend am Atlantischen Ozean gezogen ist. Der Ich-Erzähler entschliesst sich nach Buenos Aires zu reisen, um diesen Carlos ausfindig zu machen. Von dort aus fährt er mit dem Schiff nach Montevideo und sucht den Inhaber einer Buchhandlung mit angeschlossenem grossen Antiquariat – Jorge Dinarli – auf, der mit Carlos beruflich in Kontakt stand. Dinarli empfiehlt dem Literaturdozenten aus Cambridge, doch am besten mit Brauers Freund Augustin Delgado zu sprechen.

Das Treffen mit Delgado ist ein wahres Ereignis. Der Ich-Erzähler wird in Delgados grandioser Wohnung, die einer gigantischen Bibliothek (ca. 18.000 Bände) gleicht, empfangen und somit beginnt sofort ein Gespräch über die Leidenschaft für Bücher, aber auch die Kunst und Schwierigkeit mit Büchern das Leben zu gestalten. Delgado berichtet von seiner Art mit Büchern umzugehen, aber vor allem auch von der Besessenheit, jedes Buch besitzen zu wollen, das hauptsächlich bei Carlos Brauer der Fall war. Bei diesen Diskussionen zwischen Delgado und Brauer, ging es aber auch um das Thema „Anmerkungen“, die man während des Lesens vornehmen darf, soll oder kann. Brauer war da sehr konsequent:

« „Ich vögele mit jedem Buch, keine Markierung bedeutet für mich kein Orgasmus.“ »

Für Delgado war dies absolut keine Option, ganz im Gegenteil er war für das eher unberührte und jungfräulich bleibende Buch. Aber nicht nur dieses Thema auch die Problematik der Ordnung von Büchern war vor allem für Brauer ein sehr schwerwiegendes und kaum zu lösendes Problem:

« „…wie mühselig es sei, die zerstrittenen Autoren in verschiedenen Regalfächern unterzubringen.“ »

Delgado wurde sich immer mehr bewusst, dass diese Besessenheit in puncto Bücher, doch mehr und mehr zu einer geistigen Störung bei Brauer mutierte und es kaum abzusehen war, wie sich das alles weiter entwickeln würde…

Bereits während der Lektüre dieser so inspirierenden Geschichte, denkt man an das kleine und trotzdem sehr imposante Werk von Gustave Flaubert „Bücherwahn“, das die negativen Konsequenzen einer sogenannten Bibliomanie sehr deutlich beschreibt. Doch „Das Papierhaus“ ist weniger eine Kriminalerzählung, die ja Flauberts Werk zu Grunde liegt, sondern eher ein sehr persönliches und charmantes Prosastück unter anderem über die Problematik, der kaum zu bändigenden und vor allem trotzdem zu besitzen wollenden Menge an Büchern. Welcher Leser stellt sich nicht oft die Frage, wie ordne ich meine Bibliothek. Heutzutage könnte man natürlich sofort antworten, gar nicht! Kaufen Sie sich einen E-Reader und alle Probleme sind gelöst. Das mag vielleicht für den einen oder anderen Leser gelten und funktionieren, aber ein bibliophiler Mensch möchte seine Bücher besitzen, an ihnen riechen, das Papier spüren und sich an einer realen Bibliothek sein Leben lang erfreuen.

Carlos Maria Dominguez zeigt hier auf sehr stimmungsvolle, aber durchaus intellektuell literarische Weise, wie das Schicksal durch Bücher nicht nur verändert und eingeschränkt, aber vor allem auch bereichert werden kann, selbst dann wenn man bei Umzügen ab hundert gepackten Kiste jeden weiteren Bücherkarton am Liebsten verbrennen möchte. Bücher sind die Basis für jede Art von Bibliothek und deshalb sollte man nie den Satz von Delgado aus dieser mehr als zeitlosen Erzählung vergessen:

« „Wer sich eine Bibliothek aufbaut, der baut sich ein ganzes Leben auf. Sie ist nämlich nie die Summe ihrer einzelnen Exemplare.“»

Dieses eindrucksvolle Zitat lädt ein über sein eigenes Leben, ob mit oder ohne kleiner bzw. grosser Bibliothek nachzudenken. Und es zeigt uns, wie wichtig die Liebe zu Büchern doch sein kann. Carlos Maria Dominguez kann mit seiner wunderschön bildhaften Sprache all dies bereits spielerisch und trotzdem unaufdringlich empathisch erzählen. Doch die mehr als faszinierenden Illustrationen von Jörg Hülsmann in dieser neu aufgelegten Ausgabe und natürlich auch der ebenso bibliophil ästhetisch und kunstreich gestaltete Buchumschlag, verstärken die betörende und magische Anziehungskraft nicht nur hinsichtlich dieses Werks sondern Büchern gegenüber ganz allgemein, der Sie sich, verehrter Leser, bestimmt niemals entziehen wollen und können!


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