Durchgelesen – “Das Glück, wie es hätte sein können” v. Véronique Olmi

Von Durchleser

Wissen wir wirklich, wie sich Glück anfühlt? Vielleicht sehen wir unser Glück gar nicht, oder können es nicht sehen, weil wir in unserem Innersten so eingesperrt sind und gar nicht fähig sind, Glücksgefühle überhaupt zu verspüren. Doch grundsätzlich sollten wir Glück erfahren können und dürfen, obwohl das Leben natürlich auch aus Problemen, Verletzungen und Enttäuschungen, aber vor allem auch aus Überdruss und Routine besteht. Véronique Olmi hat mit ihrem neuen Roman unter dem Originaltitel „Nous étions faits pour être heureux“, was auf Deutsch bedeuten würde – „Wir wären gemacht, um glücklich zu sein“ – dem Thema Glück doch klar eine wichtige Position zugebilligt. Doch leider sieht die fiktive Realität in vielen Fällen anders aus, wie dieser wunderbare Roman hier zeigt.

Véronique Olmi, geboren 1962 in Nizza, gehört zu den wichtigsten und bekanntesten Schriftstellerinnen und Dramatikerinnen Frankreichs. Sie wurde mit zahlreichen Preisen wie zum Beispiel dem Prix Alain-Fournier für ihren ersten Roman „Bord de Mer“ („Meeresrand“) 2002 geehrt. Ihre Theaterstücke werden nicht nur in Frankreich, sondern auch sehr erfolgreich im Ausland gespielt. „Das Glück, wie es hätte sein können“ ist der zehnte Roman von Véronique Olmi der bereits 2012 in Frankreich erschienen ist und nun aktuell – dank der Übersetzung von Claudia Steinitz – den deutschsprachigen Lesern vorgestellt wird.

Der Roman spielt in Paris. Véronique Olmi erzählt aus verschiedenen Perspektiven und schenkt ihr „Ich“ nur einer der Hauptpersonen in diesem Roman, nämlich Suzanne, eine Frau um die 40, nicht sehr attraktiv, eher bodenständig, anpackend und dafür in sich ruhend. Sie arbeitet als selbständige Klavierstimmerin und ist mit Antoine, einem perfekten und sanften Mann, verheiratet.

Suzanne hat einen neuen Auftrag. Sie soll ein Klavier in einem Appartement am Montmartre stimmen. Dort trifft sie auf Lucie, die Hausherrin, eine junge, sehr attraktive Frau, Anfang 30, Mutter von zwei entzückenden Kindern. Sie lebt hier nicht allein, sondern mit ihrem Mann Serge, erfolgreicher Immobilienmakler, 60 Jahre alt. Serge bemerkt Suzanne anfänglich nicht, obwohl sie sich ganz flüchtig am Eingang begegnen, geht zur Arbeit und Lucie widmet sich dem Klavier und der Klavierstimmerin. Erst einige Tage später sehen sich Serge und Suzanne per Zufall in der gleichen Bar am Abend wieder. Serge in Begleitung von Lucie entdeckt Suzanne ganz allein auf der Tanzfläche:

„Das ist es, was Serge packt und schockiert, als er Suzanne zum ersten Mal sieht: wie sehr sie lebt, ohne Angst zu haben. Ihre Hüften sind zu breit, denkt er. Und auch: Sie ist schön. Ohne Rechtfertigung. Ohne Gesetz. Das ist unverständlich und ungerecht…Sie tanzt und kümmert sich nicht darum, ob das vielleicht stören könnte, diese Gestalt ohne Jugend und dennoch diese Kraft, die sie durchströmt, aber sie ist so gewöhnlich, beinahe vulgär. Es ist doch vulgär, oder, sich so zu zeigen, wie man ist?“

Und genau das ist es, was Serge nicht kann, sich so zu zeigen, wie man bzw. er ist. Serge lebt in einer scheinbar perfekten Welt, mit einer dreissig Jahre jüngeren Frau, und wundert sich immer mehr, wie er wohl mit seiner Launenhaftigkeit und den regelmässigen Migräneattacken auf Lucie wirkt. Aber sie liebt ihn, „ obwohl sie doch ganz offensichtlich ein junges, robustes und kampflustiges Fohlen war.“ Serge liebt den Luxus, dennoch hat er nicht alles, wovon er wirklich träumt bzw. geträumt hat. Und es stört ihn, dass seine Frau immer alles glücklich macht:

„Was kann man jemanden sagen, der jeden Tag, der kommt wie eine unerwartete Überraschung empfängt, wenn man selbst sich nur eines wünscht: genau neben seinem eigenen Dasein zu laufen?“

Serge verfolgt Suzanne bei dem nächst besten Wiedersehen, er wartet im Regen vor ihrem Haus, bis sie ihm ohne zu zögern die Tür öffnet. Sie kommen sich näher, sie lieben sich. Er weiss nicht, warum ihn diese Frau so anzieht, obwohl sie gar nicht so schön ist. Auch Suzanne ist irritiert von diesem Mann, der sich nicht öffnet, schweigt, eingesperrt ist in seinen Emotionen und sie trotzdem anzieht. Sie hat Schwierigkeiten diese Stille mit ihm zu ertragen und sie spürt einen Lügenmantel, der Serge umgibt, den er nicht ablegen will. Nicht nur Serge wirkt verloren, auch sie fühlt sich ihm ausgeliefert und dadurch ebenfalls verloren, da sie sich in einen Mann verliebt hat, der ihr nichts anvertrauen kann, gerade weil ihn ein lange gehütetes und dramatisches Kindheitsgeheimnis so sehr belastet.

Kurz vor Weihnachten treffen sie sich ein letztes Mal, erst vor dem Haus seiner Kindheit, bevor sie in eine Wohnung in die Nähe des Gare Saint Lazare gehen. Suzanne hatte sich inzwischen von ihrem Mann Antoine getrennt, was sie Serge nicht anvertraute. Doch Serge kündigte ihr an, etwas Wichtiges erzählen zu müssen. Er berichtete über seine traurige Kindheit, seinen Vater Hubert, Chirurg, der streng, cholerisch und so aggressiv war, dass er Serge Mutter in seinem Beisein regelmässig schlug. Serge erzählte von seiner unendlichen Liebe zu seiner Mutter und deren Liebe zu David und zum Klavierspiel, und ganz besonders zu ihrem Lieblingsstück „Der Liebestraum“ von Franz Liszt. Serge erzählt Suzanne nicht nur ein paar Lebenserinnerungen. Er erläutert bis aufs kleinste Detail seine bitteren Erfahrungen in der Kindheit, die daraus resultierenden tiefen Ängste und die für ihn kaum zu ertragene und mehr als belastende „Mitschuld“ an einem Mord…

Véronique Olmi spielt in diesem Roman wie ein Pianist auf dem Klavier, sie berührt die weissen Tasten der positiven Emotionen, wie Liebe und Geborgenheit, doch genau so stark werden auch die schwarzen Tasten der Melancholie, Lüge und Angst gedrückt. Ihre Sprache ist von unglaublicher Musikalität und Sensibilität, die es trotzdem erlaubt die Probleme beim Namen zu nennen, um der Wahrheit früher oder später wirklich in die Augen schauen zu können. Véronique Olmi geht tief in die menschlichen Abgründe hinein, um das wahre Drama, aber gleichzeitig auch die mögliche Befreiung darin zu entdecken. Sie zeigt gekonnt, wie die Fassade eines bourgeoisen, erfolgreichen und scheinbar glücklichen Lebens schneller bröckeln kann, als einem lieb ist. Und sie macht mehr als deutlich wie wichtig es ist zu erkennen, dass fehlende Liebe in der Kindheit, einem Erwachsenen es wesentlich schwerer macht, selbst Liebe zu schenken. Denn nicht umsonst, hat Serge grosse Schwierigkeiten seine Kinder zu lieben, vor allem sieht er immer wieder die Angstgefühle seines Sohnes in dessen Augen und fühlt sich dadurch mehr als erinnert an seine lähmende Angst vor seinem Vater.

Mit beeindruckender Empathie charakterisiert Véronique Olmi ihre Figuren, die sich trotz ihrer Verschiedenheit, ihrer Konkurrenz und ihrer Liebesfähigkeit bzw. Liebesunfähigkeit durch die Musik, oder sagen wir besser durch das Klavier, als dezent angelegter roter Faden, in einer gewissen Form miteinander verknüpfen lassen. Denn das Klavier war bereits der Dreh- und Angelpunkt in Serges Kindheit, und auch bei seinem Sohn, der nun Klavierspielen lernen soll, taucht dieses Motiv wieder auf. Und das Klavier ist wiederum so mit der Lüge verbunden, dass weder Serge noch Suzanne anfangs den Mut haben, sich gegenseitig zu gestehen, welche sowohl positive als auch negative Bedeutung das Klavier bzw. die Musik hatte und welche unausweichlichen Konsequenzen daraus für ihr jeweiliges Leben entstehen konnten.

Doch sobald die Grenzen des Schweigens zwischen Serge und Suzanne geöffnet werden, zeigt uns Véronique Olmi welche Arten es von Schweigen und Lüge gibt und welche Kraft sich entwickeln kann, wenn die Ketten gesprengt werden und der Mensch sich endlich öffnen und jemanden vertrauen bzw. etwas anvertrauen kann. Véronique Olmi kann sowohl einfühlend und als beobachtend erzählen und schafft es aus einer dramatischen Liebesgeschichte eine vielschichtige Komposition zu kreieren: sie fügt die Motive der Hoffnung und Hoffnungslosigkeit, aber auch der Lüge und Wahrheit so grandios zusammen, dass daraus ein melancholisch bedrückendes und gleichzeitig optimistisch beglückendes Werk entsteht.

„Das Glück, wie es hätte sein können“ ist mehr als die Geschichte um eine aussergewöhnliche „amour fou“, es ist ein Feuerwerk an Gefühlen, Leidenschaft und Dramatik. Es zeigt den Schein, aber auch die Realität und wir lesen uns von der vermeintlich geplanten Zukunft über die verdrängte Vergangenheit in die reale Gegenwart. Wir werden mit dem glücklosen Jetzt unausweichlich konfrontiert, obwohl wir die Gründe dafür nicht gleich kennen. Aber wir spüren als Leser sofort, wie uns die Vergangenheit blockieren kann und sehnen uns während der Lektüre deshalb umso mehr danach, durch den emotionalen unaufhaltsamen Spannungssog von Véronique Olmi in die Vergangenheit mit all ihrem Leid, ihrer Wut und ihrem Unglück eintauchen zu dürfen, um dadurch erleichtert und befreit wieder aufzutauchen.

Dieser – im wahrsten Sinne des Wortes – atemberaubend elegante und betörende sensible Roman ist die perfekte „Einladung“ sich mit der eigenen Vergangenheit und den vielleicht dazugehörigen Lebenslügen zu beschäftigen. Dieses Werk macht Mut und regt unglaublich zum Nachdenken und Nachfühlen an. Und besonders wichtig ist, dass uns Véronique Olmi in ihrem Buch auf so meisterliche Art zeigt, vielleicht so gar lehrt, wie wichtig die Musikalität nicht nur in der Sprache sondern auch im wahren Leben ist, denn Musik bedeutet Glück und Glück ist Musik!