Stefan Zweig wurde am 28. November 1881 in Wien geboren und starb durch einen Suizid am 22. Februar 1942. Er gehört zu den wichtigsten deutschsprachigen Autoren. Er pflegte einen grossbürgerlichen Lebensstil und reiste sehr viel, wobei er 1910 Indien und 1912 Amerika besuchte. Wie er in seiner Autobiographie „Die Welt von gestern“ erläutert, konnte er aufgrund seiner Untauglichkeit nicht am aktiven Militärdienst teilnehmen, und wurde daraufhin während des Ersten Weltkrieges in das Pressequartier versetzt bis er 1917 als Journalist für die „Neue Freie Presse“ nach Zürich gehen konnte.
Seine Hauptwerke hat er von 1919 bis 1934 in Salzburg geschrieben unter anderen seine berühmten Biographien, Erzählungen und Essays. Nach einer Hausdurchsuchung kurz nach Beginn der Machtergreifung der National-sozialisten im Februar 1934 stieg der bekennende Pazifist Zweig in den Zug und emigrierte nach London. Er nahm nach Ausbruch des Zweiten Weltkrieges die britische Staatsbürgerschaft an und reiste nach New York, von dort über Argentinien und Chile und erreichte 1940 Brasilien.
Beeinflusst durch Balzac und durch die Erzähltradition der Wiener Schule – man denke an Arthur Schnitzler – war auch eine starke psychologische Kraft in seinen Werken zu erkennen, die sicherlich vor allem durch Sigmund Freud mitgeprägt wurde. Besonders deutlich wird dies in seiner Novelle „Angst“.
„Angst“ wurde 1910 von Stefan Zweig verfasst und zeigt die Gefühle und Ängste einer Ehebrecherin. Die Hauptprotagonistin in dieser Novelle ist Irene Wagner, eine gut situierte, mit einem Juristen verheiratete Frau und Mutter zweier Kinder. Aus einer Laune der Langeweile und einer Art Ehemüdigkeit heraus beginnt sie ein Verhältnis mit einem jungen Musiker. Jedes Mal, wenn sie die Wohnung ihres Geliebten verlässt, steigt in ihr eine Angst auf, die sie nicht kontrollieren kann. Es ist die Angst, von ihrem Mann entdeckt zu werden:
„Als Frau Irene die Treppe von der Wohnung ihres Geliebten hinabstieg, packte sie mit einem Male wieder jene sinnlose Angst. Ein schwarzer Kreisel surrte plötzlich vor ihren Augen, die Knie froren zu entsetzlicher Starre, und hastig musste sie sich am Geländer festhalten, um nicht jählings nach vorne zu fallen.“
Diese Angst wird grösser, fast unerträglich, als sie von einer Frau auf der Strasse aufgehalten wird, die ihr vorwirft, sich an ihren Geliebten heran-zumachen. Sie ist verzweifelt, schreibt dem Geliebten einen Brief, dass sie sich nicht mehr sehen können. Trifft ihn aber trotzdem am nächsten Tag in einem Café wieder. Sie wird in dieser Zeit von der Frau beobachtet, nach Hause verfolgt und erpresst. Frau Irene zahlt ihr Geld, um Ruhe zu bekommen. Sie verlässt daraufhin drei Tage nicht mehr die Wohnung aus Angst wieder erpresst zu werden.
Ihre Familie ist verwundert über ihre lange Anwesenheit. Ihr Mann spürt ihren inneren seelischen Druck und versucht ihr eine erleichternde Hilfestellung zu geben im Hinblick auf ein eventuelles Geständnis, in dem er ihre Tochter drängt eine Dummheit zu gestehen, um dann wiederum Nachsicht üben zu können. Nur geht dieser Schachzug nicht auf. Einige Tage später klingelt die Erpresserin an der Tür und verlangt den Verlobungsring von Frau Irene. Sie gibt ihn ihr aus einer Notsituation heraus, bereut es aber kurz darauf wieder und versucht nun mit ihrem Geliebten ein Gespräch zu suchen, im Hinblick auf dessen Erpresser-Freundin. Dabei stellt sie fest, dass dieser bereits eine neue Geliebte hat und die Erpresserin gar nicht kennt.
Frau Irene ist verwirrt und am Boden zerstört. Sie fährt zur nächsten Apotheke und besorgt sich Gift. Wird sie sich aus Angst das Leben nehmen oder ist sie bereit für ein Geständnis?
„Angst“ ist im Grunde genommen eine einfach erscheinende Geschichte über Ehebruch. Doch der Handlungsverlauf nimmt von der ersten Zeile an eine Dramatik an und entwickelt sich hin bis zur höchsten Spannung, bevor dann die unerwartete Wendung bzw. Auflösung dieses „Falles“ kommt. Ja, diese Novelle hat die Kraft eines Psychothrillers. Der Leser spürt die zerstörerische Gewalt der seelischen Qualen von Irene Wagner, die Stefan Zweig gerade mit dieser doch sehr klaren, aber gleichzeitig magischen Sprache brillant und elegant beschreibt.
„Angst“ ist eine zeitlose Geschichte, welche die Kommunikationslosigkeit in der Ehe, das Rollenverständnis zwischen Mann und Frau und die Befreiung von Angst durch Ehrlichkeit und Gespräch nicht besser und prägnanter darstellen könnte. Stefan Zweig hat uns eine äusserst menschliche Novelle hinterlassen, die den Leser an den psychodynamischen Entwicklungen der Hauptperson teilhaben, ja fast schon mitleiden und mitzittern lässt. „Angst“ ist ein grandioses sprachliches und psychologisches Bravourstück der deutschsprachigen Literatur!