Eine Stadt der Bücher ist doch der Traum für jeden bibliophilen Menschen. Doch wo finden wir diese Orte, an denen Bücher zu den wichtigsten « Einwohnern » zählen? Es gibt sie verteilt auf der ganzen Welt und teilweise sind diese Orte eher klein und unscheinbar. Das erste Bücherdorf entstand 1961 in Wales : Haye-on-Wye. Aber auch in Frankreich gibt es einen entzückenden Ort – Charité-sur-Loire – mit erstaunlich vielen Buchhandlungen, der sich Stadt der Bücher nennt. Doch Trojanows « Stadt der Bücher » liegt nicht in Europa, sondern in Indien, genauer in einem gerade mal zwei Quadratkilometer grossen « Stadtteil » von Kalkutta.
Ilija Trojanow – geboren am 23. August 1965 in Sofia (Bulgarien) – floh mit seiner Familie 1971 nach Deutschland. Von 1972 ab verbrachte er seine Kindheit in Kenia, kehrte für die Schulausbildung von 1977 – 1981 nochmals nach Deutschland zurück und lebte anschliessend bis 1984 in Nairobi, wo er auf der Deutschen Schule auch sein Abitur ablegte. Er ging für ein Jahr nach Paris und studierte anschliessend Rechtswissenschaft und Ethnologie an der Universität München. Das Studium brach er ab, dafür gründete Trojanow in München zwei Verlage, die sich auf afrikanische Literatur spezialisierten. Ab 1999 zog er für einige Jahre nach Mumbai und beschäftigte sich intensiv mit Indien. Die Jahre 2003 bis 2007 verbrachte er wieder in Afrika (Kaptstadt). Inzwischen lebt er in Wien. Trojanows Gesamtwerk besteht aus Sachbüchern, Reiseführern, Reportagen, einem Science-Fiction-Roman und vielen Schriften über Afrika. Eines seiner berühmtesten und bekanntesten Werke ist sicherlich « Der Weltensammler ». Trojanow wurde mit zahlreichen Auszeichnungen und Preisen – wie zum Beispiel der Marburger Literaturpreis (1996) und der Preis der Leipziger Buchmesse (2006) – geehrt. Seine ganz aktuelle Veröffentlichung « Stadt der Bücher », welche er zusammen mit der Fotografin Anja Bohnhof gestaltet hat, führt ihn und uns Leser in Trojanows alte Heimat Indien zurück.
Wenn man an Kalkutta denkt, hat man zuerst Bilder von Armut und Überbevölkerung vor Augen. Mit 4,1 Millionen Einwohnern ist Kalkutta die siebtgrösste Stadt Indiens und mit einer Agglomeration von über 14 Millionen der drittgrösste Ballungsraum des Landes. Kalkutta ist nicht nur Industrie-, sondern auch eine für Indien wichtige Bildungs- und Kulturstadt, geprägt durch seine zahlreichen Universitäten, Theater, Kinos, Museen und Galerien. Somit ist es gar nicht so unverständlich, dass hier sehr viele Druckereien, Verlage und Buchhandlungen ihren Hauptstandort gefunden haben.
In dieser Stadt herrscht eine ganz besondere Buchkultur, die man sich vielleicht als Europäer nie hätte erträumen lassen. Entlang der College Street – eine Art Universitätsviertel – im Norden von Kalkutta gibt es mehr als 5000 Buchläden. Für Trojanow hat dieser « Ort » noch eine ganz andere Bedeutung:
« College Street ist keine Strasse, es ist kein Viertel und keine Hochschule ; College Street ist das Versprechen, jedes Buch zu finden, das man begehrt. Dieses Versprechen druchdringt wie der Ruf eines allgegenwärtigen Marktschreiers jede Nische eines Labyrinths, das von den Hauptstrassen in die Nebenstrassen und Seitengassen führt, ein Labyrinth aus bedrucktem Papier ; von den Bürgersteigen zu den Durchgängen, von Türen über Treppen bis hinauf zu vollgestopften Dachgeschossen stapeln sich Bücher zu Fassaden, Ecken und Erkern. »
Dieses besondere Fleckchen Erde mit seiner immensen Fülle und Dichte an Büchern, mit seinen verschiedenen Kiosken und « Buchläden » dürfen wir nun in diesem traumhaft schön gestalteten Bildband dank des aussergewöhnlichen Fotomaterials von Anja Bohnhof voller Faszination und Bewunderung besichtigen.
Anja Bohnhof – geboren 1974 in Hagen – studierte an der Bauhaus-Universität Weimar Fotografie. Sie hat einen Lehrauftrag an der FH Köln und ist daneben als freiberufliche Fotografin tätig. Ihre Arbeiten wurde nicht nur durch zahlreiche Stipendien und Förderpreise ausgezeichnet, sondern werden auch in internationalen Ausstellungen und Sammlungen regelmässig präsentiert.
« Stadt der Bücher » ist ein geniales Projekt, das zwei ganz beeindruckende Künstler zusammengeführt hat. Trojanow, der Sprachzauberer, der jede Lebensstimmung – wo auch immer auf der Welt – besonders authentisch einfangen und literarisch äusserst feinfühlig beschreiben kann. Und Anja Bohnhof, eine Fotografin, die ihre Objekte zielstrebig in den Focus nimmt und im absolut perfekten Moment auf den Auslöser drückt. Sie arbeitet mit der Grossformattechnik und vermischt hier in diesem Buch ganz raffiniert menschenvolle Szenen mit menschenleeren Ansichten. Durch die extrem hohe Präzision rücken somit das Buch und der dazugehörige Verkaufsort ohne jegliche Ablenkung in den absoluten Mittelpunkt. Wir entdecken die unterschiedlichsten Verlagsprogramme, Sortimentsschwerpunkte, Farbenkonzepte und Grössen im Hinblick auf die sogenannten « Verkaufsräumlichkeiten ». Es gibt selten Regale. Die Bücher werden einfach gestapelt und übereinander geschichtet. Man hat das Gefühl, als wären die Bücher ihr eigener Architekt, gestalten ihr « Ladenbausystem » durch sich selbst und präsentieren sich in kunstvollen « Pyramiden » und « Turmbauten », wie wir sie selten in europäischen Buchhandlungen wiederfinden werden.
Wichtig ist zu erwähnen, dass man hier als Kunde nicht einfach selbst in den Büchern schmökern kann. Hier hat der Kundenservice noch eine echte Bedeutung, denn der potentielle Käufer bringt seinen Bücherwunsch bei dem jeweiligen Buchhändler vor. Dieser sucht dann in seinem Sortiment nach dem gewünschten Titel. Und gerade bei der doch teilweise für uns etwas eigenwilligen und gewöhnungsbedürftigen Ordnungssystematik der Bücher, ist es um so bewundernswerter, wenn dieser Titel in kürzerster Zeit und vor allem ganz ohne Technik gefunden wird. Diese « Buch-Stadt » ist eben mehr als nur eine reine Ansiedlung von Tausenden von Buchhändlern, Verlagen und Druckern. Hier wird das gedruckte Wort nicht nur hergestellt und verkauft, sondern auch gelebt. Das Buch wandert - wie auch Trojanow feststellt – hier nicht nur als Ware über den « Ladentisch », es wird vor allem respektiert und als ein echtes Kulturgut behandelt!
« Die Stadt der Bücher » ist ein so schöner kleiner Bild- und Textband, dass man es gar nicht in Worte fassen kann. Ilija Trojanow gelingt es mit seiner so angenehmen Unaufgeregtheit und seiner Begeisterungsfähigkeit uns Leser in diese magische Bücherwelt zu entführen. Doch nicht nur seine stimmungsvollen Berichte, sondern vor allem die farbenprächtigen und intensiven Bilder von Anja Bohnhof lassen uns erst die Bedeutung der Bücher in dieser Stadt nachspüren. Treten Sie ein in das bunte Bücher-Labyrinth Kalkuttas, Sie werden nicht nur verzückt staunen, sondern sich bestimmt – mit einem besonders wohligen Gefühl – gerne durch diese Bücherstraßen treiben lassen …