Wäre es nicht ein Traum als Bibliothekar in seiner eigenen Privatbibliothek zu arbeiten ? Vielleicht ist es gar kein « Traum » mehr, sondern bereits Realität und man hat ganz unbewusst diesen aufregenden « Beruf » erwählt durch all die vielen gelesenen Bücher, die inzwischen einen wichtigen Platz in unserem Leben eingenommen haben. Und genau auf Spuren dieses wahrlich erfüllenden « Traumberufes » führt uns Audrey Niffenegger in ihrer faszinierenden Graphic Novel mit dem sehr geheimnisvollen Titel « Die Nachtbibliothek ».
Audrey Niffenegger, geboren 1963 in South Haven (Michigan), ist Professorin für Inter-disziplinäre Künste zwischen Buch und Bild am Columbia College in Chicago. Sie beschäftigt sich hauptsächlich mit der Zusammenführung von Bild und Texten im Hinblick auf Comics und Intallationen. Seit 1987 werden ihre Bilder in der Galerie Printworks in Chicago ausgestellt. Ihr Kunstwerk ist – aus ihrer eigenen Sicht – inspiriert durch Künstler wie zum Beispiel Max Ernst, Käthe Kollwitz, Horst Janssen und Hans Bellmer. In Deutschland wurde sie berühmt durch Ihren Roman « Die Frau des Zeitreisenden » (2003). Aktuell dürfen wir uns nun über ein ganz besonderes Werk freuen, das auch die künstlerische Seite von Audrey Niffenegger mehr als verdeutlicht. Dank der Übersetzung von Brigitte Jakobeit ist nun ihre erste Graphic Novel « Die Nachtbibliothek » in Deutsch erschienen, welche bereits 2010 in der britischen Tageszeitung The Guardian vorabgedruckt wurde.
Die Geschichte spielt in Chicago. Alexandra, die Ich-Erzählerin, läuft nach einem Streit mit ihrem Freund nachts durch die Strassen und entdeckt ganz plötzlich ein Wohnmobil, aus dem Musik von Bob Marley ertönt. Die Tür steht offen, Alexandra ist neugierig und wirft einen Blick in das Gefährt. Überrascht lernt sie einen sehr distinguierten Herrn kennen, der sich mit Mr. Openshaw vorstellt. Er gibt ihr diskret ein Willkommenszeichen, in das Mobil einzusteigen, welches sich als Bibliothek entpuppt :
« Von innen wirkte es grösser – viel grösser. Das Licht war gedämpft und angenehm. Es roch nach altem, trockenem Papier, mit einem Hauch von nassem Hund, was ich mag. Ich schaute mich nach dem Bibliothekar um. Er las Zeitung. »
Alexandra beginnt die Regale zu betrachten und stellt mit grossem Erstaunen fest, dass alle Bücher, die sie hier findet, einschliesslich ihres persönliches Tagebuchs, ihre Bücher waren, die sie in ihrem Leben bis jetzt gelesen hatte, aber hier mit dem Stempel « Zentralbibliothek » gekennzeichnet waren. Mr. Openshaw bestätigt dies :
« Nun die Bibliothek in ihrer Gesamtheit enthält alles Gedruckte, das jeder Mensch zu seinen Lebzeiten einmal gelesen hat…Wir sind also auf alle Benutzer vorbereitet. »
Alexandra war fasziniert und irritiert zur gleichen Zeit und hätte sich am Liebsten eines ihrer Bücher ausgeliehen, doch dies war nicht möglich. Sie verliess am frühen Morgen das mysteriöse « Buchmobil », das nur zwischen Sonnenuntergang und Sonnenaufgang geöffnet hatte, ging zu sich nach Hause und machte sich Gedanken über ihre eigene Bibliothek, ihre Bücher, die sie nun zum ersten Mal so in ihrer Gesamtheit vor Augen hatte. War es das, was sie von sich als Leserin erwartet hatte? Würde sie all diese Bücher wieder lesen ?
Am nächsten Tag wollte Alexandra Mr. Openshaw wieder aufsuchen, doch leider vergebens. Ab diesem Zeitpunkt verbrachte sie jede Minute mit Lektüre, denn sie wollte Mr. Openshaw und sich selbst beeindrucken. Und nach sage und schreibe neun Jahren trifft sie ganz zufällig wieder auf die fahrende « Bibliothek ». Mr. Openshaw erwartete sie bereits. Er lädt sie ein, mit ihm einen Tee zu trinken. Währenddessen stellt Alexandra fest, das sich ihre « Bibliothek » um ein vielfaches vergrössert hatte. Sie war tief beeindruckt von ihrem eigenen « Lesewerk » und wollte nichts lieber als die Assistentin von Mr. Openshaw werden und in der « Zentralbibliothek » arbeiten, was zu diesem Zeitpunkt leider noch nicht möglich war. Aus diesem Grund folgte sie dem Rat von Mr. Openshaw, zuerst eine richtige Bibliothekarin zu werden…
Audrey Niffenegger erzählt mit Worten, aber vor allem auch mit ihren wundervollen Bildern eine ganz besondere Geschichte, vielleicht eher eine Art Gleichnis, das den Leser sehr geschickt und raffniert darauf hinweist, wie gefährlich es werden könnte, wenn man sich nur noch dem Lesen und seinen Büchern widmet. Alexandra hat eine sehr starke Buch-Sehnsucht, die sie von einer eher jungen und unbeschwerten Frau, zu einer doch eher grau gekleideten und zu ernsthaft wirkenden Bibliothekarin verwandelt, was Audrey Niffenegger durch ihre perfekte Zeichen-perspektive und sehr naiv und bunt angelegte Maltechnik grandios umsetzt. Somit stellt sich die Frage, ob es wirklich richtig ist, in seinem Leben kostbare Zeit grundsätzlich Büchern zu widmen, und wenn ja, welche Werke es verdienen würden, das eigentliche Leben für sie zu vernachlässigen ?
« Die Nachtbibliothek » ist ein ganz besonderes Buch, es ist ein sehr aussergewöhnliches und elegantes « Wort-Kunst-Werk », das zwar durch seine klaren Farben und Formen besticht, aber trotz des « bunten » Lebens in der Bücherwelt durch den schwarzen Rahmen und Bildhinter-grund eine gewisse mystische Erdung findet. Diese Graphic Novel ist ein wunderschönes « Bilderbuch » für Erwachsene, welches vor allem durch sein ungewöhnliches und vollkommen unerwartetes « Happy End » viele Fragen offen lässt und der Leser dadurch immer wieder von Neuem verführt wird, diese geheimnisumwobene « Bibliothek » zu betreten.
« Die Nachtbibliothek » fühlt sich an wie eine Lesetraumwelt zwischen zwei Buchdeckeln, gefüllt mit subtil versteckten Lese- und Lebens-Botschaften und gekrönt durch eine Bildermagie, die jeden Buchliebhaber, Bibliomanen und Leser auf besonders intensive und nachhaltige Weise beglücken wird !