Durch die Brille des Blinden – „Alternativlos oder das Titanic-Syndrom“ von Manfred Killer im i-camp

Während die Zuschauer den Raum betreten und nach und nach ihre Plätze einnehmen, sitzt Ludger Lamers bereits auf der Bühne in einem Sessel und hält einen Vortrag. Immer wieder unterbricht er sich, um jemanden zu grüßen oder zum Hinsetzen aufzufordern. Plötzlich steht er auf, stellt sich vor das Publikum und beginnt eine ganz neue Rede, die mit „Meine lieben Mitarbeiter“ beginnt – wie wir jetzt erfahren, befinden wir uns nämlich bei einer firmeninternen Fortbildung. Als Motivationstrainer Bernhard bittet Lamers eine Zuschauerin, ihm ihr iPhone zu überlassen, um ein neues Produkt daran vorzuführen. Als er das Handy in einen Eimer Wasser wirft, um die wasserdichte Schutzhülle zu testen, ist der Schock im Publikum groß. Leider werden die Zuschauer, nachdem sie so aktiviert worden sind, im weiteren Verlauf der Performance nicht mehr so viel einbezogen.

Bernhard kommt nach dem Tod des Firmenchefs, zahlreichen Umstrukturierungen in der Firma und einem Burnout schließlich der Gedanke, sich als blind auszugeben, so wie die Hauptfigur in Max Frischs Roman „Mein Name sei Gantenbein“. Fortan trägt er eine Sonnenbrille, arbeitet nicht mehr, hat aber dafür zum ersten Mal den „Durchblick“. Das Bühnenbild, das bis hierher nur aus Bernhards Sessel und einer Leinwand bestand, auf die verschiedene großstädtische Schauplätze projiziert wurden, wird nun um eine Ebene erweitert. Ein Teil der Leinwand lässt sich entfernen, so dass der Blick frei gegeben wird auf das, was hinter der Fassade passiert. Hinter eine Scheibe befindet sich dort ein Konferenzraum von Bernhards ehemaliger Firma, wir wohnen einem Team-Meeting bei. Bernhard stellt von außerhalb alle Teilnehmenden vor. In seinem Transistorradio laufen außerdem Berichte über die Hintergründe der Personen. Es stellt sich heraus, dass eigentlich alle auf eher dubiose Weise an ihre Führungsposten gekommen sind. Die Gespräche, die hinter der Glasscheibe stattfinden, sind abwechselnd nur durch Untertitel nachzuvollziehen und tatsächlich mithörbar. Bernhard beobachtet, reflektiert und kommentiert das Geschehen. Leider zieht die Konferenz selbst sich doch sehr hin und ist dabei kaum spannender als eine solche Veranstaltung es wohl in echt ist. Unterbrochen wird das Ganze immerhin gelegentlich von absurden Sequenzen wie wilden Tänzen oder einer fliegenden Getränketüte.

Als Hauptthematik lässt sich die Privatisierung von Trinkwasser ausmachen, es geht aber auch um Globalisierung, das „Gesundschrumpfen“ von Firmen, undurchsichtige hierarchische Strukturen und Sexismus. Alles brisante Themen, über die sich viel sagen lässt und über die man schon viel gehört hat. Leider hat die Inszenierung dem Bekannten nichts Neues hinzuzufügen.

Das Ende der Inszenierung regt dann doch noch ein bisschen zum Nachdenken an und ist eigentlich sehr gelungen. Die Leinwand wird wieder geschlossen, das Büro verschwindet und Bernhard wendet sich wieder ans Publikum. Diesmal begrüßt er zu seinem „Durchblickseminar“, er hat Sonnenbrillen mitgebracht und bittet die Zuschauer, auf die Bühne zu kommen. Dort werden einzelne Personen mit Sonnenbrillen ausgestattet und von anderen über die Bühne geführt, sie sind nun ebenfalls „blind“. Die Schauspieler treten auf und bieten den Zuschauern Häppchen und Wein an, wie bei einem Empfang. Alle sind bestens gelaunt. Das Titanic-Syndrom. Unbemerkt begeben sich die Schauspieler schließlich in den mittlerweile leeren Publikumsraum. Die Rollen sind nun umgedreht, die Zuschauer selbst zu Akteuren geworden. Was man in dieser Position ausrichten kann, darüber kann man sich jetzt Gedanken machen. Leider ohne von Seiten der Inszenierung viel Input zu bekommen. Ist das System also doch alternativlos?

Foto: Michael Wüst

Foto: Michael Wüst


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