"Du wolltest es doch" & "Dear Martin"Zwei wichtige, unbequeme Bücher.

In den letzten Wochen habe ich gleich zwei Bücher gelesen, die mich wirklich berühren konnten. Nicht so, dass sie mich zu Tränen rührten, sondern so, dass sie mich wütend machten und aufwühlten. Sie glänzten beide nicht nur mit zwei Themen, wie sie aktueller und wichtiger nicht sein könnten, nein, ihre Autoren schafften es auch, ihre Charaktere unfassbar authentisch und die Handlung glaubwürdig und damit eben auch unbequem zu gestalten. Beide Romane sind keine der Sorte, die ernste Themen anschneiden und dann romantisieren; sie sind solche der Sorte, die uns klar machen, was da draußen in der Welt wirklich vor sich geht. Wie ungerecht und hart das Leben ist. Und die uns anschreien: Ändert etwas! Macht es nicht so, wie so viele Figuren in diesem Buch! Macht es besser! Verzeiht, wenn ich bei den folgenden Besprechungen ein wenig ins Quasseln gerate, aber es handelt sich dabei auch um keine Rezensionen im herkömmlichen Sinne.
Das erste und wahrscheinlich auch bekanntere der beiden Bücher ist Du wolltest es doch (Original: Asking for it) von Louise O'Neill. Es behandelt vor allem die Themen Slutshaming (dt. Bedeutung: das Anprangern einer Frau aufgrund ihres scheinbar freizügigen sexuellen Verhaltens), Rape Culture (dt. Bedeutung: soziale Milieus oder Gesellschaften, in denen Vergewaltigungen und sexuelle Gewalt verbreitet sind und weitgehend toleriert werden) und  Victim Blaming (dt. Bedeutung: die Schuld an einer Straftat wird beim Opfer gesucht).
Emma ist dabei eine Protagonistin, die man auf den ersten Blick nicht so wirklich mag. Sie ist schön, weiß um ihre Schönheit und setzt sie gekonnt ein, um im Mittelpunkt zu stehen und Jungs um den Finger zu wickeln. Bis zu eben jener Nacht, von der sie keine Erinnerungen mehr hat. Von der es aber ein sehr eindeutiges Video gibt, auf dem Emma, halb weggetreten, mit einer Menge Kerle zu sehen ist, die eine Menge Dinge mit ihr tun. Sobald dieses Video auftaucht, weiß man als Leser*in, dass es sich doch ganz klar um eine Vergewaltigung handeln und jeder Mensch das erkennen muss. Frau O'Neill bleibt jedoch realistisch und zeigt uns, wie schrecklich Emmas Mitmenschen reagieren. 
Ist sie nicht selbst schuld, wenn sie so ein freizügiges Kleid trägt? Hat sie das ganze nicht vielleicht sogar gewollt? Will sie jetzt wirklich das Leben dieser Jungs zerstören? Das und andere Sätze werden Emma entgegengeworfen, die sie auch selbst ins Schwanken bringen. Am liebsten möchte sie, dass alles wieder normal ist, dass sie keiner mehr anstarrt und auch ihre Eltern sich wieder wie gewohnt verhalten. Dieses Gedanken konnte ich so gut nachvollziehen, gleichzeitg haben sie mich aber auch wahnsinnig wütend gemacht. Selbst von ihren Liebsten bekommt Emma nicht die Unterstützung, die sie braucht, um diese schwierige Zeit in ihrem Leben zu überstehen. 
Mal abgesehen von den unbequemen Szenen des Videos, die immer wieder angedeutet werden, ist es vor allem dieses Alleingelassenwerden, das Beschuldigen Emmas und Beschützen der Täter, was beim Lesen so richtig sticht und brennt. Dieses Buch macht nicht glücklich, an keiner Stelle seiner Kapitel. Und so ist es nicht verwunderlich, dass die Autorin auch beim Ende keine unnötigen Hoffnungen weckt und lieber authentisch bleibt. Das mag nicht jeder gern lesen wollen, aber darum geht es ja auch nicht. 
 
  
Das zweite Buch, Dear Martin von Nic Stone, geht da schon etwas sanfter vor, besticht aber mit echt wirkenden Figuren und Dialogen. Dabei stehen vor allem (Alltags)Rassismus, Bildungsungerechtigkeit, Polizeigewalt und (wieder) Victim Blaming im Fokus. Der Protagonist Justyce wird nach einer falsch eingeschätzten Situation von einem Polizisten in Handschellen gelegt und fast festgenommen. Erst da beginnt er zu begreifen, dass seine Hautfarbe ausschlaggebend dafür ist, wie er von anderen Menschen eingeschätzt und behandelt wird. Immer öfter fallen ihm alltagsrassistische Äußerungen von Freunden auf, die ihn dazu bringen, sich wieder und wieder zu fragen: Was hätte Martin Luther King getan? So entstehen die Briefe, die am Anfang jedes Kapitels stehen.
Stone stellt in ihrem Roman gekonnt dar, wie sehr unsere Gesellschaft mit Voruteilen behaftet und wie blind die "weiße Masse" für genau diese ist. Ich fand es toll, dass es dabei nicht allein um die ausgeübte Gewalt der Polizei gegen Schwarze ging – obwohl sie doch einen großen und wichtigen Teil ausmacht –, sondern auch Themen wie ethnische Bildungsungleichheit angesprochen und ausdiskutiert wurden. Einen Debattierclub mit in die Handlung zu integrieren, war dabei ein schlauer Schachzug, der es erlaubte, die behandelten Probleme von mehrere Seiten zu betrachten.
Auch beim Lesen dieses Buches verspürte ich oftmals vor allem eins: Wut. Und auch wenn man sich als Leser*in vielleicht denken mag, dass es sich um ein amerikanisches Problem handelt, mit dem wir in Europa nicht viel am Hut haben, der sollte nur mal die aktuellen Nachrichten verfolgen. Es mag in diesem Roman zwar einen schwarzen Protagonisten geben, doch scheint dieser stellvertretend für alle ethnischen Minderheiten zu stehen, die weltweit diskriminiert werden. Man kann gut nachvollziehen, warum es ab einem gewissen Punkt auch Justyce reicht, warum er sich erheben und etwas tun will. 
Dieses Verständnis geht sogar soweit, dass man das Ende des Buches unbewusst gutheißen möchte, obwohl es moralisch verwerflich ist. Vielleicht ist das auch mein größter Kritikpunkt, denn am Ende sieht es so aus, als würde es Auge um Auge gehen und die endgültige Lösung Rache heißt. Justyce selbst kommt zwar noch zur Vernunft, aber die Geschichte findet ein eher fragwürdiges Ende. Mag aber auch sein, dass ich selbst nicht einschätzen kann, was ein realistischer Abschluss gewesen wäre.

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