Der Blick vom Gipfel
Quelle: Helmut Mühlbacher
Ihr Lieben,
ich möchte Euch heute eine Geschichte von Hans Künzlererzählen:
„Der Wunderknabe“
Es war einmal ein Wunderknabe, der im zartesten Alter schon die ganze Welt erkannte. Unter der Tür des Elternhauses wusste er über alles Bescheid und von weit her kamen die Menschen, um ihn sprechen zu hören und um seinen Rat zu holen.
Er war zum Glück ein glänzender Redner und ließ den schwierigsten Fragen die größten Worte angedeihen und manchmal auch die längsten. Man wusste nicht, woher er sie hatte, wie es bei Wunderknaben so ist. Sie lagen ihm einfach im Mund. Sein Ruf ging in die Welt hinaus und bald wollte man überall von seinem Wissen profitieren.
So machte er sich auf die Wanderschaft und nahm sich vor, die ganze Welt, über die er immer gesprochen hatte, nun auch zu erkunden. Doch kaum eine Stunde von zu Hause kam er an einen Scheideweg, der ihn zwang, zwischen drei Möglichkeiten zu wählen, denn nicht einmal ein Wunderknabe kann zugleich in verschiedene Richtungen gehen.
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Er ging geradeaus weiter und musste links ein Tal und rechts ein Tal ungesehen liegen lassen. Schon war seine Welt zusammengeschrumpft. Auch bei der nächsten Gabelung büßte er Möglichkeiten ein und weitere bei der dritten und bei der vierten.Jeder Weg, den er einschlug, jede Wahl, die er traf, trieben ihn in eine enge Spur.
Und wenn er jetzt auf den Dorfplätzen sprach, wurden die Sätze immer kürzer.
Die Rede floss ihm nicht mehr wie einst, als er ins Freie getreten war. Sie war belastet von Unsicherheit über das unbegangene Land, das er schon endgültig hinter sich wusste.
So ging er und wurde älter dabei, war schon längst kein Wunderkind mehr, hatte tausend Weg verpasst und Möglichkeiten auslassen müssen. Er machte immer weniger Worte und kaum jemand kam noch, ihn anzuhören.
Er setzte sich auf einen Meilenstein und sprach nun nur noch zu sich selbst:
„Ich habe immer nur verloren: an Boden, an Wissen, an Träumen. Ich bin mein Leben lang kleiner geworden. Jeder Schritt hat mich von etwas weggeführt. Ich wäre besser zu Hause geblieben, wo ich noch alles wusste und hatte, dann hätte ich nie entscheiden müssen und alle Möglichkeiten wären noch da.“
Müde, wie er war, ging er dennoch den Weg zu Ende, den er einmal begonnen hatte, er blieb ja nur noch ein kurzes Stück. Abzweigungen gab es jetzt keine mehr, nur eine Richtung war noch übrig und von allem Wissen und Reden war nur noch ein einziges letztes Wort, für das der Atem noch reichte. Er sagte das Wort, das niemand hörte, und schaute sich um und merkte erstaunt, dass er auf einem Gipfel stand.
Der Boden, den er verloren hatte, lag in Terrassen unter ihm. Er überblickte die ganze Welt, auch die verpassten Täler, und es zeigte sich also, dass er im Kleiner- und Kürzerwerden ein Leben lang aufwärtsgegangen war.“
Ihr Lieben,
mancher von Euch, der diese Geschichte liest, mag nun denken:
„Was hat die Geschichte mit mir zu tun?“
Diese Geschichte betrifft uns alle, denn wir alle sind dieser Wunderknabe:
Wir werden geboren und meinen, dass uns alle Möglichkeiten zur Verfügung stehen. Unsere Eltern und Großeltern, die Schüle, die Ausbildung oder das Studium bringen uns zu der Ansicht, wir könnten die ganze Welt erobern.
Wir halten unsere Eltern und Großeltern, aber auch unsere Lehrer für rückständig und glauben, wir allein hätten das Rezept für eine bessere Zukunft, eine bessere Welt in Händen.
Aber je weiter wir unseren Weg fortsetzen, desto mehr müssen wir erkennen, wie wenig wir diese Welt wirklich beherrschen können, wir müssen immer wieder Entscheidungen treffen und immer wieder auch Verzicht üben.
Entmutigt geben viele Menschen auf dem Weg durch ihr Leben auf. Sie haben Angst vor Entscheidungen. Sie merken, dass das Leben ihnen immer weniger Möglichkeiten bietet, sie fürchten sich davor, alt zu werden.
Wer aber glaubt, alt zu werden, sei die letzte Sackgasse, aus der es kein Entkommen mehr gebe, der irrt gewaltig.
Wer durch sein Leben hindurch tapfer Schritt für Schritt seinen Weg geht, der kann das sagen, was dieser Wunderknabe gesagt hat: „Ich habe zwar vieles in meinem Leben nicht verstanden, aber ich habe niemals aufgegeben!“
Wenn wir diese Haltung beherzigen, dann werden wir eines Tages entdecken:
Der Weg durch das Leben hin zum Alter ist kein Weg in die Sackgasse, kein Weg in die Aussichtslosigkeit, sondern dieser Weg führt immer aufwärts und am Ende stehen wir auf dem Gipfel unseres Lebens und begreifen, was der Sinn unseres Lebens war:
„Niemals aufzugeben und uns und Anderen Freude zu bereiten!“Ich möchte meine heutigen Gedanken mit einem Vers von Syra Kolb aus ihrem wundervollen Buch „Gedanken, die berühren“ beenden:
„Ich bin so dankbar, endlich alles, was in mir steckt, leben zu können.
Und mein besonderer Dank gilt allen, die mir das von Herzen gönnen.“
Ich wünsche Euch ein fröhliches, ein zufriedenes und erfülltes Wochenende
Euer fröhlicher Werner
Quelle: Karin Heringshausen