Du hast keine Wahl – aber geh wählen!

Nach der niedrigen Wahlbeteiligung in Bremen waren die Politiker dieses unseres blühenden Landes recht aufgeschreckt darüber, dass inzwischen nur noch die Hälfte der Wahlberechtigten von ihrem Wahlrecht Gebrauch machen und die Nichtwähler inzwischen eine absolute Mehrheit stellen. Von Politikverdrossenheit ist die Rede, und auch davon, dass es sich offenbar ziemlich viele Menschen sich abgehängt, nicht ernst genommen und vergessen fühlen.

Und das ja auch völlig zu recht – denn was tut die Politik schon für Menschen, die keinen Job finden oder eben nur einen schlecht bezahlten?! Was tut die Politik für Normalverdiener, die seit Jahren damit leben müssen, dass die eigentlich überfällige Lohnerhöhung ausbleibt, weil die Nation im globalen Wettbewerb dank mehr Leistung zum geringeren Preis weiterhin gut da gestehen kann? Deren Rentenansprüche immer weiter zusammengestrichen werden, so dass im Alter Armut vorprogrammiert ist?

Für Normalverdiener-Eltern, die auf zwei Einkommen angewiesen sind, die aber den dringend benötigten Kindergartenplatz nicht bekommen? Für die Kinder eben nicht so wohlhabender Familien, an deren Schulen Tafelkreide und Klopapier eingespart wird, während gleichzeitig großzügige Programme zur Elitenförderung aufgelegt werden? Für die Studenten, deren Eltern kein Studium finanzieren können und die trotzdem die hohen Lebenkosten in deutschen Universitätsstädten bestreiten müssen?! Für diejenigen, die krank sind, alt werden, Hilfe brauchen? Für die Menschen trotz aller Anstrengung eben nicht mehr am angeblichen Wohlstand unserer Gesellschaft teilhaben, der zwar wächst, aber auf immer weniger verteilt wird?

Gar nichts.

Ehrlich gesagt wundert mich sogar, dass noch immer die Hälfte der Menschen zur Wahl gehen und damit ihr Bekenntnis zu diesem Staat ablegen, dem ihr Wohlergehen doch völlig am Arsch vorbei geht. Offenbar gibt es hierzulande eben doch noch viel zu viele, die denken, dass diese ganze Veranstaltung, die sich Bundesrepublik Deutschland (oder meinetwegen auch westliche Wertegemeinschaft) nennt, statt finden würde, damit es ihnen an nichts mangelt: Das ist ein Irrtum.

Dieses ganze Brimborium findet statt, damit der Rubel rollt. Oder der ja eben nicht, Russland ist ja mega-out. Aber letztlich ist egal, wie das Geld heißt, dass verdient werden muss, und genau dafür ist der Staat da: Um die Voraussetzungen zu schaffen, dass Geld verdient werden kann. Wofür die einen dann arbeiten, damit die anderen es einstreichen können.

Dazu gehört vor allem, dass Privateigentum heilig ist – was denen nützt, die welches haben – und dass die anderen dazu angespornt werden, ihren Lebensunterhalt zu verdienen, in dem sie den anderen zu noch mehr Eigentum verhelfen. Und so lange diejenigen, die dafür schuften müssen, den Eindruck haben, dass sie vom Kuchen einen halbwegs gerechten Teil abbekommen, läuft der Laden. Deshalb war die Wirtschaftswunderzeit ja auch so wunderbar: Allen ging es immer besser und für gute Arbeit konnte man sich eine gute Existenz aufbauen. Aber so funktioniert das nicht mehr: Immer mehr Menschen kommen auch hierzulande trotz harter Arbeit nicht mehr über die Runden.

Und die haben den absolut nachvollziehbaren Eindruck, dass sich an ihrer Situation nichts ändern wird, egal welche Partei sie wählen. Genau so ist es: Es gibt nun einmal keine deutsche demokratische Partei, die die herrschenden Verhältnisse ernsthaft ändern bzw. abschaffen will. Also braucht man auch nicht zu wählen: Es kommt ohnehin immer dasselbe dabei raus: Die Reichen werden reicher, die Armen höchstens zahlreicher, aber insgesamt ärmer. Das ist der Witz am Kapitalismus und keine Entartung, wie manche Sozialromantiker, die Ludwig Erhard gut finden, noch glauben wollen: Diejenigen, die am meisten Kapital haben, machen auch den größten Gewinn. Und der ist natürlich größer, je weniger sie andere teilhaben lassen. Wer noch immer glaubt, dass man Spatzen glücklich macht, in dem man den Gaul gut füttert, kann ruhig weiterhin zur Wahl gehen: Das Pferd wurde inzwischen durch PS-starke Traktoren ersetzt, von deren Abgasen die Spatzen höchstens tot vom Baum fallen.

Erst wenn eine Regierung daran ernsthaft etwas ändern wollte, könnte man über eine Wahlbeteiligung wieder ernsthaft nachdenken. Es ist übrigens sehr bezeichnend, dass inzwischen die Forderung nach einer Wahlpflicht lauter wird: Vor gut einem Vierteljahrhundert hat man genau das an der DDR kritisiert: Eben dass die Wähler im Grunde keine Wahl hätten – man könne ja nur die SED wählen oder eben nicht, wobei das eben nicht schon besonderen Mut erfordert habe, weil die Regierung der DDR von ihren Leuten ganz ausdrücklich ein positives Bekenntnis zu ihrem Staat erwartet hat.

Heute ist es kein bisschen anders: Es geht um das positive Bekenntnis zu diesem Staat. Man kann eben nur irgendeine Variante davon wählen, und wie bei den Jogurtsorten im Kühlregal werden es immer mehr, die sich im Geschmack immer weniger unterscheiden: Irgendeine Partei aus dem demokratischen Spektrum, die dann exekutiert, was nötig ist, damit der Laden wie gehabt weiter läuft. Oder man geht eben nicht wählen. Dass inzwischen die Hälfte der Menschen bei diesem demokratischen Zirkus nicht mehr durch den Reifen springen will, finde ich im Grunde ermutigend: Sollen die Parteien doch das Volk auflösen und ein anderes wählen.



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