Carlottos Protagonisten, das sind der Russe Sosim Katajew alias Aleksander Peskow, die Schweizerin Inez Theiler, der Inder Sunil Banerjee sowie der Italiener Giuseppe Cruciani. Diese jungen Leute hatten einander beim Studium an einer teuren Privat-Universität in Leeds kennengelernt. Ihr Lieblingspub »Dromos« gab den Namen für die von ihnen gegründete Gang. Sie beschlossen, ihre jeweiligen Talente und Möglichkeiten zu vereinen, um gemeinsam die Welt zu erobern:
Bei der Gründung ihrer Gang hatten sich als erste Regel gegeben, nicht in die Welt des Verbrechens einzutreten, bevor sie nicht ihren Doktor hatten, mindestens drei Sprachen beherrschten und kreuz und quer durch die Welt gereist waren. (S. 131)
Ihre geschäftliche Basis finden sie Marseille. Mit »Kleinvieh« wollten sie sich in dieser Metropole des internationalen Rauschgifthandels aber nicht abgeben. Sondern Reichtum und Macht erobern mittels Wirtschafts- und Ökokriminalität (illegale Müllentsorgung in der Dritten Welt), illegaler Organhandel, Geldwäsche und Betrug in großem Stil. Allerdings ist hier in Marseille noch der russische Geheimdienst, der von der Dromos-Gang nichts weiß, mit im Geschäft. Die Vier müssen also letztlich auch noch diesen ausschalten. Aber wie?
In Marseille tobt zu dieser Zeit ein Territorialkrieg zwischen einheimischen, korsischen und lateinamerikanischen Drogen- und Zuhälterbanden, was sich letztlich nicht förderlich auf die ganz anderen Pläne der Vier auswirkt.
Nicht zuletzt wirkt in der Hafenstadt eine inoffizielle Polizeibrigade unter der Leitung der unkonventionellen Kommissarin Bernadette Bourdet. Sie hat es sich zum Ziel gesetzt, einige prominente Politiker, Geschäftsleute und Advokaten, die eng mit mafiösen Strukturen verbunden sind, zur Strecke zu bringen. Dabei bedient sie sich u.a. eines korsischen Mafiabosses alter Schule und eines frisch eingeflogenen paraguayischen Berufskillers, der groß ins Drogengeschäft einsteigen möchte. Die Bourdet und der Korse wollen den Territorialkrieg beenden, »geordnete« französische Zustände wiederherstellen…
Die nicht mehr junge und alles andere als attraktive Bourdet, eine Lesbe mit einer Schwäche für schöne junge exotische Frauen, kümmert sich nebenbei auch um die Resozialisierung von Prostituierten und die Bestrafung von deren Zuhältern.
Und dann ist da noch Ulita Winogradowa, Leutnant des russischen Inlandsgeheimdienstes FSB, Führungsoffizier von Sosim Katajew. Dieser war ursprünglich Zögling einer russischen Mafiabande, versucht aber über die Dromos-Gang den Absprung von dieser und seinem Auftraggeber FSB.
Irgendwann kreuzen sich die Wege der Gang, der Bourdet und der Winogradowa. Und das eher beiläufig, zufällig…
Interessant ist Carlottos Einstieg in das Geschehen: Im ersten Kapitel stellt er unter den jeweiligen geographischen Koordinaten alle wichtigen Figuren und ihre jeweiligen Geschäfte vor.
Das Buch liest sich gut, schildert das Alltagsverbrechen (Bandenkriege, Drogenhandel, Schutzgelderpressung, Prostitution) ungeschönigt, hart, brutal. Natürlich kommen auch Beschreibungen sexueller Affairen und Eskapaden nicht zu kurz (so die der Bourdet, die zwischen Sosim und Ulita, oder die des Paraguayers).
Es gibt aber auch echte, zärtliche Liebe, die allerdings vor den Komplizen geheim gehalten wird (Sosim und Inez).
Leider krankt Carlottos Roman an einigen Klischees, die für die Handlung eigentlich unnötig sind. Das betrifft vor allem Russenmafia, russischer Geheimdienst, tschetschenische und andere islamistische Terroristen.
Schließlich kommt es zum großen »Showdown« zwischen allen Interessengruppen… Wie dieser ausgeht, wer »ins Gras beißen« muß, wer wie mit dem Leben davonkommt, das soll nicht verraten werden. Nur dies: Kommissarin Bourdet »ihrerseits würde bis zum Erreichen des Pensionsalters mit ihren eigenen Methoden weiterkämpfen. Das war sie ihrer Heimatstadt schuldig.« (S. 233)
Trotz der oben erwähnten Klischees ist dieser Krimi ein echter Thriller. Ein Thriller, der sich nicht in Oberflächlichkeiten erschöpft, sondern der gesellschaftlich, soziale, politische und wirtschaftliche Hintergründe nicht ausklammert. Ein Thriller, der die moderne globale »Nadelstreifen-Kriminalität ohne Moral und ohne Grenzen« durchaus gelungen widerspiegelt.
Dieser Thriller ist auf seine Weise sogar eine Illustration eines anderen bekannten Zitates:
»… Das Kapital hat einen Horror vor Abwesenheit von Profit oder sehr kleinem Profit, wie die Natur vor der Leere. Mit entsprechendem Profit wird Kapital kühn. Zehn Prozent sicher, und man kann es überall anwenden; 20 Prozent, es wird lebhaft; 50 Prozent, positiv waghalsig; für 100 Prozent stampft es alle menschlichen Gesetze unter seinen Fuß; 300 Prozent, und es existiert kein Verbrechen, das es nicht riskiert, selbst auf Gefahr des Galgens. Wenn Tumult und Streit Profit bringen, wird es sie beide encouragieren. Beweis: Schmuggel und Sklavenhandel. (P. J. Dunning, zitiert in Das Kapital, Band I, S. 801, Dietz-Verlag Berlin, 1961)
Siegfried R. Krebs
Massimo Carlotto: Die Marseille Connection. Kriminalroman. Aus dem Ital. Von Hinrich Schmidt-Henkel. 240 S. geb.m.Schutzumschl. Tropen. Stuttgart 2013. 18,95 Euro. ISBN 978-3-608-50134-6
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[Erstveröffentlichung: Freigeist Weimar]