Ich sitze in der Metro, einer der modernsten Nahverkehrszüge Lateinamerikas. Diese überirdische Schnellbahn ist zugleich Hauptschlagader der Stadt, führt durchs Tal zwischen Wolkenkratzern und grünen Bergen entlang der verstopften Stadtautobahn und dem schmutzigen Fluss. Ich steige um in die Gondel und schwebe den Hang hinauf. Der Unterschied zwischen Tal und Berg wird erst von der Nähe aus sichtbar: unfertige Gebäude, das Wellblechdach, die Enge, der Schmutz.
Medellins Slums
El Doctor
Escobar
Eine friedliche Touri-Gondelfahrt durch Medellin wäre Anfang der 90er Jahre unvorstellbar gewesen. Bis vor einigen Jahren war die Stadt noch für ganz Anderes traurig berühmt: Pablo Escobar, Boss der örtlichen Drogenmafia, hatte Medellin bis in die 1980er Jahre zur Welthauptstadt des Kokain-Handels gemacht – mit allen bekannten Nebenwirkungen. Die Stadt hatte damals die höchste Mordrate der Welt: 6500 Fälle pro Jahr – 20 Morde pro Tag. Escobars einziges Ziel war es, Macht und Reichtum anzuhäufen und zu verteidigen, mit allen möglichen Mitteln. Er und sein Kartell waren die ersten, die Herstellung und Vertrieb von Kokain industrialisierten: so wurde er in wenigen Jahren zu einem der reichsten Menschen der Welt.
Auf der Free-Walking-Tour an der ich teilnehme, wird Escobar immer wieder erwähnt, allerdings unter dem Namen “The Doctor”. Medellins Bewohner sind verärgert, wenn man über den wohl berühmtesten Sohn der Stadt spricht. Es heißt, jeder hat hier eine Geschichte über ihn zu erzählen. Doch erzählen möchte diese Geschichte niemand – zu frisch sind die Erinnerungen an die wohl grausamste Zeit in Medellin. Mit Escobars Tod im Jahr 93 erhebt sich laut unserem Städteführer “eine dunkle Hand und lässt Medellin wieder atmen”. Auch wird uns davon berichtet, dass die Rauschgift-Kriminalität keinesfalls verschwand. Das ehemalige Medellin-Kartell trägt nun nur einen anderen Namen und auch Escobars Erben halten sich Söldnerheere. Insgesamt werden in der Stadt 119 Gangs vermutet.
Von Gangkriminalität bekomme ich glückerweise nichts mit. Im Großen und Ganzen fühle ich mich sicher in der Stadt, versuche allerdings trotzdem, unauffällig zu bleiben und bin vor Einbruch der Dunkelheit zurück im sichersten Viertel der Stadt: El Poblado.
Die Stadt im Wandel
Eigentlich müsste ich mir über Gefahren keine Gedanken machen. Medellin trägt heute nicht mehr den Titel gefährlichste sondern innovativste Stadt der Welt, noch vor New York und Dubai. Medellin hat sich gewandelt, weil es nach Veränderung suchte. Knappe 30 Prozent seiner Ausgaben steckt die Stadt in Kultur, Erziehung und Soziales. Nicht ohne Hintergedanken lässt die Stadtverwaltung Bibliotheken, Spielplätze und Parks in die Problemviertel setzen.
Stadtrundfahrt in Medellin
Die Stadt selbst wird von den Bewohnern liebevoll als “Stadt des ewigen Frühlings” bezeichnet – bei einer durchschnittlichen Tagestemperatur von 27 Grad kann man da als Europäer schon mal neidisch werden.
Die Stadtführung führt vorbei am wohl touristischsten Platz der Stadt, die Plazoleta de las Esculturas. Hier stehen 23 üppige Bronzestatuen des kolumbianischen Künstlers Fernando Botero. Mobile Verkäufer versuchen hier alles Mögliche an den Touristen zu bringen: kalte Getränke, unreife Mangos, Hüte, Schokolade & Zigaretten.
Plazoleta de las Esculturas
unreife Mango
Weiter geht es durch die bunte und lebendige Einkaufsmeile der Stadt, vorbei an prächtigen Kirchen, Hochhäusern und kleinen Parks. Der Parque Berrio ist der offiziell inoffizielle Kiffertreffpunkt und sollte laut Aussage unseres Guides Nachts gemieden werden. In der Altstadt ist der Parque de Bolivar morgens Treffpunkt für Rentner und am Nachmittag für Transvestiten. Am Plaza Cisneros sieht man, was der ehemalige Bürgermeister sich unter seinem Drei-Säulen-System vorstellte. Gefährlichen und unschönen Orten sollte durch Umbau, Bepflanzung und Raumschaffung der Schrecken genommen werden. Heute stehen am einst gefährlichsten Ort der Stadt schattenspendende Bambusbäume mit einladenden Parkbänken und Säulen die in den Himmel ragen: als Zeichen der Wiederauferstehung der Stadt.
Säulen am Plaza Cisneros
Free Walking Gruppe
Medellin bietet unglaublich viel Kultur. Festivals finden am laufenden Band statt, Straßenkünstler treten an jeder Ecke auf und Museen gibt es reichlich. Ich will mich selbst nicht als Kulturbanause bezeichnen, aber so richtig Lust hab ich gerade nicht auf Unterhaltung dieser Art. Ich gönne mir ein kühles Bierchen, beobachte die Leute und stürze mich ins Nachtleben. Was mir auf meiner Mitternachtstour extrem auffällt ist, dass die Menschen hier unglaublich freundlich und aufgeschlossen sind. Aus der Frage nach dem Weg entwickelt sich ein längeres Gespräch, Unbekannte spendieren Drinks und Zigaretten. Das Nachtleben hier macht echt Spaß. Ich habe allerdings für den nächsten Tag einen Daytrip nach Guatape gebucht. 3 Tage in der Stadt reichen mir vorerst.
“Der schönste Ausblick der Welt”…
…so zumindest wirbt ein Schild vorm Eingang zum “El Penol” (Der Fels). Naja, wenn das mal nicht übertrieben ist. Ich lasse mich überraschen. Dieser gigantische Monolith aus Granit ragt 200 Meter in den Himmel und bietet nach einem ermüdenden Zick-Zack-Lauf einen Blick auf die künstlich überflutete Landschaft, welche gleichzeit Stausee ist und somit als Stromversorger für einen großen Teil Kolumbiens sorgt. Der schönste Ausblick der Welt ist es nicht ganz, die kleinen grünen Inselchen und das blaue Wasser machen ihn aber schon besonders!
“Der schönste Ausblick der Welt”
Auf dem Rückweg gönnen wir uns ein kühles Bierchen an einem wunderschönen Ufer irgendwo inmitten dieser hunderten Inseln.
Wir machen Halt an einem Aussichtspunkt und genießen den atemberaubenden Blick auf diese geschichtsträchtige Stadt. Kaum vorstellbar, was dort noch vor zwei Jahrzehnten abging. Ich blicke auf die niemals schlafende Stadt und denke im gleichen Moment an das Bild der zwei bronzenen Vögel auf dem San Antonio Platz auf dem 1995 durch ein Sprengstoffattentat 23 Menschen ihr Leben verloren haben. Einer der Vögel heißt Pajaro herido (verwundeter Vogel), der andere Pajaro de la Paz (Vogel des Friedens).
Medellin bei Nacht
Plaza San Antonio
Verwundeter Vogel
Wer heute den Paten von Medellin sucht, der findet ihn noch immer. Zum Beispiel von Montag bis Freitag jeden Abend zwischen 10 und 11 im Fernsehen. “Pablo Escobar, Patron des Bösen” heißt die beliebte Serie. In 113 Folgen schildert die Serie, wie der Sohn einer Dorflehrerin und eines Viehzüchters vom Autoknacker zum berüchtigsten Drogenbaron der Geschichte wurde. Wie er mit seinen Flugzeugen tonnenweise Kokain in die USA schickte und Geld wog anstatt es zu zählen. Wie er mit seinen Mördern und Bomben seine Heimat terrorisierte – und für seine Bewunderer unsterblich wurde.
Dennoch wissen alle in der Stadt: Escobars Ende war für Medellin ein Anfang.
Ich bin froh, dabei sein zu dürfen.