Als 2009 die schwarz-gelbe Regierung mit einer soliden Mehrheit im Rücken ihre Arbeit aufnehmen konnte, transportierte sie vor allem zwei Versprechen: Schluss mit der Politik der Großen Koalition und ihren ewigen Kompromissen und Steuersenkungen. Die eine Hoffnung war simpler Ausdruck der Müdigkeit mit der Großen Koalition und eine auch im gegnerischen Lager geteilte Haltung: alles, nur nicht noch mal vier Jahre davon. Das andere war der Schlachtruf der FDP, die ihr Rekordergebnis von rund 16% vor allem der gerade beschriebenen Geisteshaltung vieler Wähler verdankte, jedoch für einige Wochen annahm, aus eigener Kraft ein klares Mandat für ihre absurde Politikvorschläge errungen zu haben. Das Programm der antretenden Koalition stellte sich demnach auch als eine Art Wunschkonzert der Liberalen dar, die wohl im Herbst 2009 wirklich glaubten, es geschafft zu haben. Die Energiewende zurückdrehen, die zarten Abfederungen an der Agenda-Politik stoppen, "die Steuern" senken, Gesundheitssystem weiter teilprivatisieren und Schulden abbauen - das war im Großen und Ganzen das Programm. Ein Teil dieses Programms wurde bereits 2010 durch äußere Einflüsse erweitert: die Euro-Krise ließ die ganze schwarz-gelbe Riege als eiserne Stabilitätshüter auftreten, die keinen Cent deutschen Gelds ins marode südliche Ausland schicken würden.
2012 ist von diesem Programm praktisch nichts mehr übrig, und nicht, weil es auf der Agenda als "erledigt" abgehakt worden wäre. Für eine dieser Entwicklungen kann die Koalition nichts: Die Energiewende war auf dem besten Weg der Abwicklung, als ein Erdbeben in Fukushima die Bevölkerungsmeinung derart drehte, dass Angela Merkel nur noch hastig hinterherspringen konnte. Das andere größtenteils von außen bestimmte Politikfeld, die Euro-Krise, war dagegen ein hausgemachtes Desaster. Sich breitbeinig hinzustellen und ein teutonisches "Niemals!" in die Landschaft zu rufen, wenn jedem vernünftig denkenden Menschen hätte klar sein müssen, dass es politisch niemals durchsetzbar und diplomatisch in höchsten Maße unvernünftig war - es war von Beginn an absehbar. Eine kurze Phase deutscher Dominanz zeigte allen anderen europäischen Ländern schnell genug, dass das Hemd näher war als der Rock. Deutschland war die einzige Nation, die vom Status quo profitierte. Logischerweise setzten sich auch befreundete konservative Regierungen schnell von Merkel ab, als es darum ging, die eigenen Pfründe zu schützen. Auf dem Feld der europäischen Außenpolitik hechelt man inzwischen eher hinterher. Zwar steht genügend Macht hinter Deutschland, um verhindernd zu wirken, aber gestaltet wird hier derzeit nichts.
Das wird umso deutlicher auf den anderen Gebieten der Außenpolitik, die praktisch ausschließlich von der FDP dominiert sind: Guido Westerwelle als Außenminister und Dirk Niebel als Entwicklungshilfeminister haben, seit Guttenberg den Posten des Verteidigungsministers räumen musste, unter den Ministern praktisch ein Monopol auf die Außenvertretung (wenn man die erratischen Auftritte Schäubles in den EU-Gremien, die man guten Gewissens kaum mehr als Ausland bezeichnen kann, einmal beiseite lässt). Von Niebel sind hauptsächlich Bilder mit der Bundeswehrmütze in Afrika und die Privatisierung der Entwicklungshilfe in Erinnerung, und es ist sein Glück, dass diesem Sektor keine öffentliche Aufmerksamkeit beschieden ist. Westerwelle dagegen ist spätestens seit dem Libyen-Desaster, wo sich die BRD mit Schwung ins Abseits zu schießen verstand, politisch keine Größe mehr. Auch hier muss man sagen, dass es Glück der Koalition ist, dass die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit anderswo gebunden ist.
Nirgendwo jedoch wird die totale Kastrierung der FDP deutlicher als bei ihrem Leib- und Magenthema Steuersenkungen. 2009 sorgte es für den Fehlstart mit der "Mövenpick-Steuer", einer so klaren Klientelpolitik, dass die Partei innerhalb von Tagen das politische Kapital ihres Rekord-Ergbenisses verspielte. Seither ist es der CDU/CSU, die ohnehin nie wirklich im Boot dieses Konzeptes war spielend gelungen, jeden Vorstoß aus dieser Richtung abzuwehren. Die gewaltigen Ausgaben im Rahmen der Euro-Krise machten dies umso leichter, denn die FDP hatte sich ja gleichzeitig einem "stabilen" Haushalt versprochen. Auf dem Feld der Steuerpolitik bekam sie keinen Fuß auf den Boden, was sicher auch an mangelndem Engagement und schlechter Verhandlungspolitik in den Koalitionsverhandlungen lag. Wäre es der FDP wirklich ernst gewesen mit einer Steuerreform hätte sie das Finanzministerium fordern müssen, nicht das Wirtschaftsministerium. Stattdessen nahm sie letzteres in einem Anfall falscher Eitelkeit. Das Wirtschaftsministerium ist bedeutungslos geworden, die echte Wirtschaftspolitik wird in den EU-Gremien gemacht - und dort beherrschen Regierungschefs und Finanzminister die Szene, und beide sind aus der CDU.
Man sollte den Aspekt des Wahlergebnisses der FDP nicht unterschätzen. Mit rund 16% der Stimmen gewann sie einen Stimmanteil, der für eine so kleine Partei einzigartig ist, und ihr Anteil an den Ministerien war entsprechend hoch. An und für sich sollte eine Partei in der Lage sein, eine gewisse Machtposition zu erlangen, wenn die andere so klar auf ihre Stimmen angewiesen ist, um irgendetwas durchzubringen. Stattdessen war die FDP wesentlich schwächer. Trotz der nominell vielen Stimmen im Parlament konnte die Union die FDP mehr oder minder straflos ignorieren. Der Grund dafür liegt in der mangelnden Verankerung der Partei in der Wählerschaft. Wie bereits erwähnt war ihr hoher Stimmanteil weniger ein Bekenntnis der Bevölkerung zur FDP sondern ein Votum gegen die Fortsetzung der Großen Koalition. Die Illusion der Liberalen, es sei anders, wurde schnell von den Umfrageergebnissen zerschlagen. Seit den frühen Wochen der Koalition kommt die Partei demoskopisch nicht auch nur in die Nähe eines zweistelligen Ergebnisses und streift beständig um die 5%-Hürde entlang. Stattdessen gilt die Wählergunst nun den Grünen (und zwischenzeitlich den Piraten), wohl aus denselben Motiven. Die FDP steht da wie der Kaiser ohne seine Kleider. Sie wurden völlig entkernt, gewogen und für zu leicht befunden. Ihre Positionierung war tauglich für die Opposition, aber im Regierungsalltag wurden sie von den Profis aus der Union völlig an die Wand gespielt. Dieser Eindruck wird so schnell auch nicht aus der Wählerschaft zu entfernen sein.
Damit kommen wir zur Union. Ihr wurde während der Großen Koalition oftmals vorgeworfen, sich zu "sozialdemokratisieren", weil sie die letzten Reste des Leipziger Parteitags 2003 von sich streifte wie die Lumpen eines Aussätzigen. Mit Sozialdemokratie freilich hat das wenig zu tun; die Union kehrt eher wieder zu ihrer Verfassung der Kohl-Zeit zurück und wird wieder eine "konservative" Partei in dem Sinne, als dass sie sich auf ihre Klientel besinnt. Während der Großen Koalition profilierte sich die CDU notgedrungen rechts von der SPD (obwohl mit dem Elterngeld bereits hier der größte Ausbau des Sozialstaats seit den 1970er Jahren auf ihr Konto ging). In den Medien wurde dieser Vorgang größtenteils nicht verstanden. Merkel dürfte das Recht gewesen sein. In der Zwischenzeit konnte sie die Neupositionierung ihrer Partei durchziehen. Ihre früheren Konkurrenten verstanden ihr Tun - Friedrich Merz etwa, der sich konstant über sie beschwert, ohne dass jemand zuhört. Die neue CDU ist nicht mehr so kalt und herrisch wie die der Agenda-Zeit. Stattdessen - und das ist eine Tatsache, die bisher im Geräuschnebel praktisch unterging - ist sie zur Hauptträgerpartei des Sozialstaats geworden. Sowohl Elterngeld als auch Betreuungsgeld stammten von ihr, wurden von ihr propagiert und durchgesetzt, Frau von der Leyen doktort an einer (minimalen) Rentenerhöhung und nun diskutiert sie auch noch Gutscheine für Haushaltshilfen, mit denen die Vereinbarkeit von Familie und Beruf erleichtert werden soll. Man erinnere sich noch einmal daran, welchen Aufschrei die Verlängerung des ALG-I von 12 auf 18 Monate durch die SPD es seinerzeit noch gegegeben hatte!
Wer jetzt gleich zu den Kommentaren scrollen will, um diese Einschätzung in Frage zu stellen möchte sich noch einen Moment gedulden. Selbstverständlich ist die Partei nicht über Nacht zum Rächer der Entrechteten geworden. Die Schere zwischen Arm und Reich ist immer noch weit offen, und Niedriglöhner, Alleinerziehende und Hartz-IV-Empfänger haben weiterhin wenig zu lachen. Die CDU hat aber die Einschnitte effektiv beendet. Sie redet permanent von Sparen und Kürzen, tut aber nichts in diese Richtung. Stattdessen hat sie den Sozialstaat mit dem gleichen Trick aufgeblasen, den bereits Kohl angewandt hat: einfach die Kosten einem fachfremden Bereich aufbürden. Anstatt die Reformen über das Arbeitsministerium laufen zu lassen und den Arbeitsagenturen anzuschließen, geht diese neue Erweiterung über das Familienministerium. Das ist clever, denn "Sozialstaat" und "Jobcenter" wurden in den letzten Jahren praktisch zu Synonymen in der öffentlichen Auseinandersetzung. Mit diesem Weg gelang es der CDU, den massiven Ausbau der Sozialsysteme für ihre Klientel zu verstecken und unter so beliebten Feldern wie "Gleichstellung von Mann und Frau", "Vereinbarkeit von Familie und Beruf" und "Familienförderung" zu verstecken. Es ist ihr klarer Vorteil gegenüber der SPD, denn die muss stets gegen die Vorurteile ankämpfen, nur Geld verteilen zu wollen - siehe den aktuellen Streit um die Rentenreform, wo die SPD eine äußerst geringe Mindestrente von 850 Euro vorschlägt - ein Witz gegenüber den bis zu 1900 Euro, die ein Haushalt durch Elterngeld und Betreuungsgeld monatlich einstecken kann. Nur, im einen Fall profitieren die Armen, im anderen Fall die Mittelschicht.
Die Unzufriedenheit mit Merkel hält sich auch aus diesem Grund in engen Grenzen. Die CDU ist längst nicht mehr der Gottseibeiuns all derjenigen, die sich um ihr Auskommen fürchten. Die Leipzig-CDU, die ein "Fressen oder gefressen werden" propagierte, ist passé. Stattdessen lebt die CDU von einer unglaublichen Heuchelei. Auf der einen Seite propagiert sie einen "ausgeglichenen Haushalt" und die "Schuldenbremse" und erstickt damit alle politischen Initiativen, die sie nicht will oder die ihr gefährlich werden könnten, während sie auf der anderen Seite mit vollen Händen das Geld zum Fenster hinauswirft, um ihre eigene Klientel zu bedienen - sei es nun die Bankenrettung oder die Akademikerinnenwurfprämie. Die Partei bereitet damit den Boden für zukünftige Dominanz. Alles, was ihr fehlt, ist ein Koalitionspartner. Und angesichts der Richtung, in die sich die Partei gerade entwickelt, drängen sich die Grünen auf. Nicht für 2013, sicherlich. Dafür gibt es noch zu viele mentale Differenzen, besonders von dem, was in der CDU fälschlich als "konservativ" bezeichnet wird und was eigentlich nur (gesellschaftspolitisch) reaktionär oder (fiskalpolitisch) neoliberal ist. Opfer dieser Entwicklung sind auf der einen Seite die FDP, die viel zu spät bemerkt hat, woher der Wind weht (obwohl etwa Christian Lindner unterstellt werden muss, es erkannt zu haben und entgegenzusteuern), und auf der anderen Seite die Linke als Bewegung. Die Euro-Krise und das Kreidefressen der CDU haben ihr die Reibungsfläche genommen, und der Konsens des "ausgeglichenen Haushaltes", den die CDU etablieren konnte und für sich beansprucht, raubt ihr jeglichen Bewegungsspielraum. Da die SPD und Grünen entschlossen haben, dieses Spiel mitzuspielen, und der LINKEn ein attraktives Gegennarrativ völlig abgeht, dürfte an der CDU auch in Zukunft kein Weg vorbeiführen.