Dr. Dr. Joachim Kahl
Das Kölner Beschneidungsurteil beschäftigt immer noch die Gemüter – siehe die Talkrunde jüngst bei Maischberger. Eigentlich meint man, dass inzwischen alles gesagt worden sei, nun könne die Politik eine Entscheidung treffen. Ginge es nach den Parteispitzen, dann hätten wir schon morgen eine Lösung des Problems, die uns wieder einen Schritt näher brächte in die Zeit des Mittelalters. Es wäre dies ganz im Sinne der Religionen und ihrer Vertreter in den Parlamenten. Aber vielleicht ahnen unsere Volksvertreter, dass ihr Volk aufgeklärter denkt, als sie selbst, und überlegen noch, mit welchen Tricks man uns ein Ergebnis »unterjubeln« kann, das alles beim Alten lässt, aber dennoch »fortschrittlich« erscheint.
Nachfolgend ein Beitrag von Dr. Dr. Joachim Kahl zum Thema Beschneidung aus der Perspektive eines laizistischen Humanismus, in dem er die Unhaltbarkeit der religiösen Argumente aufzeigt. Der Philosoph und Theologe Dr. Dr. Joachim Kahl ist bekannt geworden u.a. durch seinen Weltbestseller „Das Elend des Christentums oder Plädoyer für eine Humanität ohne Gott“ (1968, neu aufgelegt 1993) und sein Buch „Weltlicher Humanismus – Eine Philosophie für unsere Zeit“ (2009, inzwischen in 4. Auflage erschienen).
von Dr. Dr. Joachim Kahl
Das Kölner Beschneidungsurteil vom 7. Mai 2012 – ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur Vertiefung des säkularen Rechtsstaates.
Neun Thesen aus laizistisch-humanistischer Sicht:
1. Mit seinem Urteil zur Strafbarkeit religiös motivierter Beschneidungen an Knaben hat das Kölner Landgericht völlig unverhofft einen rechtspolitischen und kulturellen Meilenstein gesetzt. An einer sensiblen Materie hat es verdeutlicht, dass Kinder nicht die Leibeigenen ihrer Eltern sind, sondern deren Schutzbefohlene. Kinder sind eigene Rechtssubjekte mit allen Menschenrechten, nicht zuletzt denen auf körperliche Unversehrtheit und auf negative Religionsfreiheit
2. Eltern haben unstrittig das Recht und die Pflicht, ihre Kinder gemäß ihrer eigenen Weltanschauung, sei sie säkular oder religiös, zu erziehen, freilich nur im Rahmen des verfassungsmäßig geschützten Menschenrechtskanons; der für alle gilt unabhängig vom Alter. Insofern dürfen atheistische Eltern ihre Kinder religionslos und religionskritisch erziehen. Religiöse Eltern dürfen ihre Kinder in den Anschauungen ihrer jeweiligen Religion erziehen. Verwehrt ist ihnen freilich dabei, irreversible oder als irreversibel vorgestellte Mitgliedschaften überzustülpen. Denn dieser unfaire Paternalismus nutzt den kindlichen Zustand der Wehrlosigkeit und Unmündigkeit aus und verletzt das Recht, nur freiwillig und ohne Zwang einer Religion oder Weltanschauung beizutreten oder eben nicht beizutreten. Die Illusion einer neutralen Erziehung sei in diesem Zusammenhang ausdrücklich als solche benannt und zurück gewiesen.
3. Die positive Religionsfreiheit der Eltern findet ihre unüberschreitbare Schranke an der negativen Religionsfreiheit ihrer Kinder. Mit deren Erreichen der Religionsmündigkeit entsteht dann die Möglichkeit, selbständig über die Zugehörigkeit einer zu einer Religion und die etwaige Teilnahme an ihren Initiationsriten zu entscheiden. Allerdings empfiehlt es sich – angesichts der Komplexität der zu treffenden Entscheidungen und im Interesse ihrer Ernsthaftigkeit –, das heutige Alter der Religionsmündigkeit von vierzehn Jahren auf das allgemeine Mündigkeitsalter von achtzehn anzuheben.
4. Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland benennt die rechtlichen Regeln zur Lösung der zur Debatte stehenden Probleme in unüberbietbarer Eindeutigkeit. „Niemand darf zu einer kirchlichen Handlung oder Feierlichkeit oder zur Teilnahme an religiösen Übungen oder zur Benutzung einer religiösen Eidesform gezwungen werden.“ (Artikel 140 Absatz 4, vollgültig aus der Weimarer Reichsverfassung ins Grundgesetz integriert) Im Lichte dieser kristallklaren Formulierungen, die nur aus ihrem Dornröschenschlaf geweckt werden müssen, erweisen sich die Initiationsriten der drei abrahamitischen Religionen, vollzogen an kleinen Kindern, allesamt als rechtwidrig, ja als verfassungswidrig. Hier werden junge Menschen nicht nur zur „Teilnahme an religiösen Übungen…gezwungen“, hier werden sie zu deren Objekt degradiert, zu deren Opfer gemacht.
5. Unbeschadet dieser Gleichheit in der rechtlichen Unzulässigkeit sollte freilich die beachtliche Differenz zwischen Beschneidung und Taufe nicht unterschlagen werden. Die Taufe ist harmloser, denn sie verletzt nicht schmerzhaft den kindlichen Körper, und es fließt kein Blut. Insofern stellt sie in der Geschichte religiöser Initiationsriten einen zivilisatorischen Fortschritt dar, der mit dem Namen des Apostels Paulus verbunden ist. War noch der als göttlich verehrte Erlöser, Jesus Christus, selbst als Jude beschnitten, so verwarf Paulus die Beschneidung der männlichen Vorhaut als Zeichen eines Gott wohlgefälligen Lebenswandels und setzte an deren Stelle eine spirituelle „Beschneidung des Herzens“. Damit wurde endlich auch die weibliche Hälfte des Menschengeschlechts gleichberechtigt in die unmittelbare Gottesbeziehung mit einbezogen. Paulus lehrte, vor Gott zähle nur die Reinheit der Gesinnung, eben der „Glaube“, der in der Liebe tätig sei. Damit war zugleich auch religiösen Kleider- und Speisegeboten argumentativ der Boden entzogen.
6. Das hohe Alter von Traditionen und die identitätsstützende Inbrunst, mit der bestimmte religiös motivierte Praktiken heute verteidigt werden, besagen überhaupt nichts über deren ethische Qualität, über deren lebensdienliche Sinnhaftigkeit und über deren rechtsstaatliche Legitimität. Die Religions- und die Kirchengeschichte sind voll der bizarrsten Verirrungen und schauerlichsten Verbrechen, gepriesen in „heiligen“ Schriften als gottgewollte und gottwohlgefällige Glaubensinhalte. Tieropfer, Menschenopfer, Hexenverbrennungen, Ketzerverbrennungen, Verfolgung Andersgläubiger und Ungläubiger, Judenpogrome, Steinigungen von Ehebrecherinnen – Jahrhunderte lang, oft Jahrtausende lang galten sie als göttlicher Wille, bekräftigt von höchsten, für heilig gehaltenen Autoritäten, oft mit Unfehlbarkeitsanspruch. Wer dies kritisierte oder bezweifelte, war selbst der Gottlosigkeit verdächtig. Im Zusammenspiel von interner und externer Kritik, im Bündnis von Aufklärung und Staatsmacht wurden schließlich die gröbsten dieser Verfehlungen beendet oder es wurde deren Beendung eingeleitet. Beispielgebend sei an das Verbot hinduistischer Witwenverbrennungen 1829 durch die britische Kolonialmacht in Indien erinnert. Nach der kuriosen Logik mancher heutiger Beschneidungsapologeten wäre dies als ein arroganter Eingriff in die Religionsfreiheit von Hindus und als kulturell unsensibler Akt eurozentrischer Respektlosigkeit vor Jahrtausende alten religiösen Traditionen zu verdammen, ein frühes Beispiel für „Vulgär – Rationalismus“ (Navid Kermani). Kluge Argumente und hilfreiche Informationen zur intensiven innerjüdischen und innerisraelischen Kritik an Bescheidung finden sich auf der englischsprachigen Internetseite „Jews against Circumcision“.
7. Das Urteil des Kölner Gerichtes steht nicht so isoliert da, wie es auf manche überraschte Kommentatoren gewirkt hat. Es bringt an einem konkreten Einzelfall auf den juristischen Punkt, was hierzulande in den letzten Jahren und Jahrzehnten an gesellschaftlichem Problem- und Wertbewusstsein herangereift ist. Die aufwühlenden Berichte über Genitalverstümmelungen in Afrika und Europa, vorgenommen von Frauen bei Mädchen, haben zugleich ein ebenso breites wie berechtigtes Interesse an der Frage geweckt: Mit welchem Recht amputieren eigentlich Ärzte und so genannte Beschneider an den Geschlechtsorganen kleiner Jungen herum? Kundigen Medizinern mit Praxiserfahrung und mutigen Juristen ist es zu verdanken, dass das Thema „religiös motivierte Knabenbeschneidung“ umfassend in internationalen Fachzeitschriften erörtert wurde. An einem zufälligen Einzelfall wurden dann von einem unabhängigen Gericht in Deutschland die richtigen Konsequenzen gezogen. Die Idee einer gewaltfreien Erziehung und die Idee der individuellen Selbstbestimmung gerade in religiös-weltanschaulichen Fragen sind die beiden tragenden Leitideen – geboren in der europäischen Aufklärung -, die den freiwilligen Verzicht auf die abrahamitischen Initiationsriten empfehlen oder notfalls deren Verbot begründen.
8. Die europäische Aufklärung war eine befreiende Wohltat für alle Lebensbereiche nicht nur auf ihrem Ursprungskontinent. Am Beispiel der religionskritischen Hauptschrift Immanuel Kants „Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ (1793 / 94) sei das Säurebad vergegenwärtigt, in das er vornehmlich die christliche Religion legte. Diese Kur sei allen jenen heute empfohlen, die meinen, aus welchen Gründen auch immer, die Knabenbeschneidung verteidigen zu sollen. Kant schreibt: “Ich nehme erstlich folgenden Satz als einen keinen Beweises nötigen Grundsatz an: alles, was außer dem guten Lebenswandel der Mensch noch tun zu können vermeint, um Gott wohlgefällig zu werden, ist bloßer Religionswahn und Afterdienst Gottes.“ ( Viertes Stück, 2.Teil, § 2, erster Satz; Zeichensetzung behutsam modernisiert) Ein starker Text mit starken Worten! Geleitet vom Idealbild einer gereinigten Vernunftreligion prangert Kant all das als „Religionswahn“ (!) und „Afterdienst Gottes“ (!) an, was über den guten Lebenswandel hinausgeht, wie etwa die Beschneidung. In der Tat: ist es nicht absurd sich vorzustellen, der erhabene Schöpfer aller Dinge wolle geehrt werden durch die blutige Amputation der männlichen Vorhaut, die er doch selber in seiner grenzenlosen Weisheit und Güte geschaffen hat?
9. Die Initiationsriten der drei abrahamitischen Religionen, Taufe und Beschneidung, sind archaische Relikte der Zwangsmissionierung. Im kindlichen Zustand der Hilflosigkeit und Unmündigkeit werden massenhaft Mitglieder zwangsrekrutiert, ein Vorgang, den kein Rechtsstaat dauerhaft tolerieren kann. Auch unbeschnitten und ungetauft können wir guten Gewissens, guten Muts, mit guter Laune und mit gutem Erfolg durchs Leben gehen. Um ein sinnvolles Leben zu führen, brauchen wir andere Initiationshelfer: ein liebevolles und bildungsfreundliches Elternhaus, dessen anfängliche Erziehung in eine lebenslängliche Selbsterziehung mündet.
[Einleitung (kursiv) mit freundlicher Genehmigung von Uwe Lehnert übernommen]
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