Messe ist dem Wort Masse nicht unähnlich. Ein Bericht, nach dem Klick...
Zwischen hunderten, viel zu vielen überflüssigen und tausenden, viel zu wenig interessanten Verlagsständen, Millionen von Büchern und deren Agenten, die im Anzug am Stand stehend jedes Mal so tun, als seien sie und nicht ihr Autor der nächste Nobelpreisträger in spe, zwischen unzähligen Pseudo-Schriftstellern, die in Nerdbrillen und modern-chic-style zumindest so tun, als sein sie szeneaffin gekleidet, beeindruckt von den perfekt glänzenden Gesichtern der Hostess-Bitches und den riesigen, futuristischen Silhouetten der Wolkenkratzer und beseelt von chronischem Sauerstoffmangel, weiß man, dass man endlich angekommen ist, auf der diesjährigen Buchmesse in Frankfurt.
Am Nachmittag im Foyer der Halle 4.0 werde ich zum zweiten Mal an diesem Tag enttäuscht, denn die Lyrik-Lesung erweist sich als der klägliche Versuch zweier so genannter Poetryslammer, ihre tausendfach zum Erbrechen wiedergekäuten "Freestyle"-Gedichte - die am Ende doch nie über bedeutungslose Enjambements sowie ständiges Hip-Hop-Herumgefuchtel hinauskommen - durch ihre aufgeblasene Lässigkeit zu echter Lyrik hochzujazzen. Das ist ja völlig daneben, denke ich, schäme mich leicht fremd und bin überaus dankbar, als ein älterer Herr im beigefarbenen Günter Grass-Jacket, mit dem ich ansonsten wohl weniger gemeinsam habe als mit dem schmierig gegeelten Verlagschef am nächsten Stand, am Slam vorbeigeht und laut denkt: „Halt die Fresse !"
Später dann, auf der Lesebühne der unabhängigen Verlage, wurde es dann endlich mal interessant. Man konnte sogar bequem sitzen. Und einer Lesung von Ingo Niermann beiwohnen, der aus seinem neuen Buch Deutschboden liest, dass er zusammen mit dem Autor Alexander Wallasch verfasst hat.
Es geht um einen jungen deutschen Kriegsveteranen, der mit einem schwer verletzten Bein aus Afghanistan zurückgekehrt ist und seitdem zwischen Internetporno- und Schmerzmittelexzessen in einer deutschen Kleinstadt kläglich dahinsiecht. Realismus, der wehtut. Nach einem understatement-mäßigen „Schönen Nachmittag" in bester ironisierender Berlin-Mitte-Manier beginnt Niermann mit dem Lesen. Beim Wort Afghanistan ergreift eine zögerlich stehen geblienene BWL-Studentin entnervt die Flucht, zuviel Politik scheint ihr nicht zu bekommen. Später, an einer anderen Stelle des Buches propagiert eine gut gekleidete Frau einen völlig falsch verstandenen Feminismus, indem sie empört aufsteht und weggeht. Dabei hat der Autor doch nur vorgelesen, was der Protagonist im Buch gerade selbst liest, und zwar auf dem Internetprofil einer jungen Dame, die für den Gangbangclub Nord arbeitet. Sie beschreibt sich dort selbst als eine Frau, die gerne "alle drei Löcher bis zum Anschlag gestopft" bekommt. Klar, das ist zwar obszön, eigentlich aber nur die reale Situation deutscher Sexualgelüste, die im Internet bedient werden wollen. Wobei man dazusagen muss, dass die anschließenden ellenlangen Beschreibungen darüber, wie der Protagonist gerade sein erigiertes Glied zwischen Kühlschrank und Schublade reibt, etwas nerven. Da ich aber nur die ersten zehn Seiten des Buches gehört habe, kann und will ich nicht vorschnell urteilen...
Bei vegetarischen Entenfleisch-Spießen konnte ich den frühen Abend entspannt ausklingen lassen und erwarte mit Vorfreude den morgigen Auftritt des Newcomer- Literaten Thilo Sarrazin.
Text und Fotos: Phire