Marco ist jetzt eine Halbwaise. Aber was sind Mutter und Schwester von Olivia? Es gibt keine Worte dafür, wenn man die Tochter oder die Schwester verliert. Und … Caterina ist plötzlich Mutter! Wie sie diese neue Aufgabe annimmt, das ist ebenso berührend wie aufwühlend. Schließlich hat sie kaum Erfahrung. Kinder gehören nicht zu ihrem Leben. Eigentlich ist Marco ja ein ganz gewöhnlicher Teenager. Er provoziert, er konsumiert Drogen und Alkohol. Ein typischer Heranwachsender, der mit einem viel zu langen und dünnen Körper konfrontiert ist, der überall anstößt und der damit absolut nicht klar kommt! Der von seiner Mama getröstet und verständnisvoll in den Arm genommen werden will. Tante und Oma geben zwar ihr Bestes, können aber keinen Ersatz bieten. Manchmal lautstark, dann wieder leise – so geht diese kleine Familie ihren Weg.
In den von der Regierung notdürftig eingerichteten Wohnblöcken (erdbebensicher, nachhaltig, umweltverträglich) beginnen sie ein neues Leben. Und sie bemühen sich wirklich! Doch da ist ja nicht nur die Trauer, da ist auch die starke Herausforderung durch die neuen Aufgaben. Da ist die viel zu enge Unterkunft (einem Container gleich) und da ist dieser zutiefst unglückliche Teenager. Der sich fragt, warum nicht seine Tante im Haus war, als der Balken herab stürzte, sondern seine Mama! Um das Drama komplett zu machen, lebt Marcos Vater in Rom und hat wenig Zeit.
Doch was macht die Autorin? Sie erzählt einen komplett undramatischen und wunderschönen Familienroman, der zwar zart angehaucht ist von leichter Melancholie, von Trauer und Verlust. Der aber doch so voller Poesie und Hoffnung ist! Und angefüllt mit dem Duft und den Farben der italienischen Abruzzen. Ich möchte losziehen, Sandalen und ein leichtes Blümchenkleid überstreifen und mit Caterina und Marco bei einem Glas Rotwein den Sonnenuntergang hinter den Bergen von L’Aquila bestaunen. Caterina ist eine so wundervolle Frau, sie wäre mir eine gute Freundin! Und ich hätte den einen oder anderen Tipp für sie, habe ich doch selbst zwei Söhne erzogen.
Manchmal geht Caterina in ihre alte Töpferwerkstatt in die von Patrouillen bewachte “Rote Zone”. Sie weiß die Männer geschickt zu umgehen, taucht ein in die Schatten der verbotenen Gassen, wo es nach faulendem Holz und nach Staub riecht. Ein Haus ohne Fassade hier, ein zerbrochener Spiegel und ein im Wind baumelnder Lichtschalter da. Dann die alte Tür aus Nussbaum, durch welche sie ihre zerstörte Werkstatt betritt … Der Tag draußen ist so klar, dass es schmerzt. Vom Hang des Monte Sirente fegt der Wind herunter und schlüpft in die vor ihm liegenden Gassen wie Finger in einen Handschuh. Es riecht nach Schnee und nach Harz, das an den Stämmen getrocknet ist. Ich muss meine Augen abschirmen, um das von blauen Stützbandagen zusammengehaltene Haus gegenüber zu betrachten. Aus der offen stehenden Balkontür im ersten Stock flattert träge der schmutzig-weiße Vorhang heraus, tanzt eine Runde und verschwindet … (S. 21). Eindringlich und beeindruckend sinnlich beschreibt Di Pietrantonio die Bilder der Zerstörung, findet sie Worte, die berühren. Ein bezaubernder kleiner Roman mit starkem Inhalt.
Donatella Di Pietrantonio. Bella Mia. Aus dem Italienischen von Maja Pflug. Verlag Antje Kunstmann GmbH. München 2016. 221 Seiten. 18,95 €