Dolce Vita extrem: Skitour auf die Signalkuppe

Von Berghasen

Das süße Leben haben wir bei unserer Besteigung der Signalkuppe auf jeden Fall gefunden. Wenn auch nicht auf die gemütliche Art.

Müdigkeit überfällt mich. Seit einer Stunde gehe ich in Trance. Höre nur das Heulen des Windes und meine schweren Atemzüge. Am liebsten würde ich mich in Embryo-Stellung in den Schnee legen und die Augen zusammenkneifen. Aber sobald ich stehen bleibe, schüttelt sich mein Körper vor Kälte. Ich muss in Bewegung bleiben. Ich trage sämtliche Kleidung, die ich mit auf den Berg genommen habe, an mir. Dennoch schwitze ich nicht. Ein Merino-Shirt, darüber meine dünne Tourenjacke, darüber die Daune und darüber eine GoreTex-Jacke – ich sehe aus wie das Michelin-Männchen und fühle mich auch so.

Fast bewegungsunfähig trotte ich vor mich hin. Seit zwei Stunden habe ich nichts getrunken. Fahrlässig, ich weiß. Bei Windspitzen von 100 km/h überlegst du dir zweimal, ob du anhältst, den Gurt deines Rucksacks öffnest und die Wasserflasche hervorkramst. Am Abend erfahren wir von einem Bekannten, dass die Uhr seines Freundes an dem Tag -30° angezeigt hat. Jetzt macht vieles Sinn.

Nicht süß, windig!

Früher am Morgen. Um kurz vor acht Uhr rammen Vroni und ich die Eingangstür der Gnifetti-Hütte auf. Der Wind drückt kräftig dagegen und will uns nicht auf die Terrasse lassen. Das wird ein harter Tag. Heute wollen wir gemeinsam unseren ersten Viertausender besteigen. Der Plan: mit Tourenskiern vom Rifugio Gnifetti auf die Signalkuppe.

Die Felle auf- und die Kapuze tief ins Gesicht gezogen, sehen wir die Sonne über dem Aosta-Tal aufgehen. Ein Startschuss, der motivierender nicht sein könnte.

Die Blicke gesenkt, die Schultern gegen den Wind gestemmt – so kämpfen wir uns den ersten Anstieg Richtung Vincent-Pyramide empor. Die Route führt über den Lysgletscher, der seine Zunge bis zur Hütte ausstreckt. Die Spalten sind fest verschlossen, der Schnee hartgefroren. Wir verzichten auf Seilsicherung und jeder kann sein Tempo gehen.

Nach einer Stunde Gehzeit überschreite ich die Viertausender-Marke. Wenn ich sagte, ich würde die Höhe nicht spüren, lügte ich. Ich bewege mich in Zeitlupe. Ein Schritt, ein Atemzug. Mein Motor ist gedrosselt. Ich würde gerne schneller gehen, kann aber nicht. Dann ist da noch der Wind, der ständig von vorne kommt. Verdammt – eine Genusstour stellt man sich anders vor.

Mein Kopf ist leer. In Gedanken bin ich tief in mich gekehrt. Versuche zu ergründen, wie mein Körper auf die unbekannten Bedingungen reagiert und komme zu dem Schluss, dass es mir ganz gut geht. Kälte und Wind rauben mir bloß den Scharfblick für das, was mich umgibt. Ja, die Bergwelt hier ist faszinierend und weit. Nur auf Details kann ich nicht achten und sie dir auch im Nachhinein nicht eindrücklich schildern.

Hey Matterhorn!

Rechts erkenne ich die Vincent-Pyramide, links von mir den Lyskamm, darunter den Gletscher mit weit aufklaffenden Spalten und Seracs. Ich warte kurz auf Vroni, um sicherzugehen, dass wir auf derselben Route bleiben. Der Weg führt uns vorbei an Balmenhorn, Ludwigshöhe und Parrotspitze auf ein Plateau.

Auf der Hochfläche sind wir dem Wind vollkommen ausgesetzt. Er trägt Schneekörner mit sich und beschleunigt sie zu Geschossen. Sie fühlen sich an wie Nadelstiche, wenn sie auf mein Gesicht prallen. Tausende Schmerzreize. Jede Sekunde.

Als ich endlich wieder wage, meinen Blick zu heben, steht die Signalkuppe vor mir. 4.556 Meter hoch. Der sechsthöchste Berg der Alpen. Bei genauem Hinsehen erkenne ich die Margherita-Hütte, die direkt auf ihrem Gipfel steht. Es ist nicht mehr weit!

Ganz tief in mir flackert ein Funken Motivation auf und ich schöpfe neue Kraft. Vom Plateau muss man etwa 50 Höhenmeter in eine Senke zum Fuße der Signalkuppe abfahren.

In der Mulde lässt der Wind sofort nach. Auch der Schleier aus hohen Wolken, der sich bisher hartnäckig vor der Sonne gehalten hat, dünnt sich aus. Mir ist sofort wärmer und während ich warte, bis Vroni zu mir stößt, versinkt mein Blick in die umliegende Bergwelt.

Erst jetzt erkenne ich das Matterhorn – Lyskamm und Dufourspitze rahmen das Schweizer Mahnmal ein.

Signalkuppe – so nah, so fern

350 Höhenmeter fehlen bis zum Gipfel. Zuhause in den Tauern würde ich sagen: eine Sache von einer halben Stunde. In den Westalpen tickt die Uhr anders. Bis ich endlich auf der Signalkuppe stehe, vergeht doppelt so viel Zeit.

Zeit, in der ich mich in mir selbst verliere. Meine Bewegungen sind roboterartig. Ich fühle mich ferngesteuert und schwerfällig. So, als würde ich in einem Bleianzug stecken und am Grunde eines Sees wandeln. Lethargisch setzte ich einen Schritt vor den nächsten. Ich gehe einfach weiter, ohne mir die Sinnfrage zu stellen.

Während die Kälte an meinen Zehen nagt, schweifen meine Gedanken zurück an unsere letzten Frühjahrstouren in Osttirol. Es war so schön warm, der Schnee so perfekt, der Wind nur in Form eines lauen Lüftchens präsent. Das heute ist keine Genusstour. Dolce Vita stelle ich mir anders vor. Auch, wenn wir uns in Italien befinden.

Es geht nicht um den genussvollen Aufstieg. Es geht nicht um eine geile Abfahrt. Es geht um den Gipfel. Und den will ich erreichen. Unbedingt. Warum? Weil ich da bin.

Der Schnee unter meinen Füßen hat sich plötzlich in Eis verwandelt. Vor mir stürzen Tourengeher und fangen sich an Windgangeln wieder. Ich muss vorsichtig sein ohne Harscheisen. Gefühlvoll schleife ich meine Ski an den Kanten über die Eisplatten. Ein kurzes Flachstück und ich erreiche das Skidepot.

An einen Aufstieg mit Skiern bis zum Gipfel ist nicht zu denken. Die Flanke ist schneearm und darum zu steil. Ich schnalle ab und ramme die Skienden so tief wie möglich in die Schneedecke. Mehrmals überprüfe ich, ob sie wirklich fest verankert sind. Dem Wind traue ich heute alles zu.

Ich lege Steigeisen an. Eigentlich unnötig für das kurze Stück. Aber ich habe das Gefühl, nicht mehr vollkommen konzentriert zu sein. Ausrutschen wäre blöd – nordseitig fällt die Gipfelflanke mehrere Hundert Meter zur Senke ab.

Grande Finale

Fünf Minuten darauf erreiche ich den Gipfel der Signalkuppe. In der Margherita-Hütte verstecke ich mich vor dem Wind und spähe aus dem Fenster, um Vronis Ankunft nicht zu verpassen. Ich will bei ihr sein, wenn sie auf den Grat tritt. Einige Zeit vergeht. Ich weiß nicht, wie viel. Dann taucht ihre Silhouette hinter der Wechte auf.

Ich eile aus der Hütte, rumple eine kurze Eisentreppe hinab und schlittere ihr auf dem blanken Grat entgegen. Wir fallen uns in die Arme. Halten uns ganz fest. Ohne ein Wort zu sagen, wissen wir beide, wie stolz wir aufeinander sind. Wir haben durchgehalten. Uns widrigsten Bedingungen gestellt.

Vom Wind gebeutelt, mit gefrorenen Nasenspitzen und klirrend kalten Fingern stehen wir beide so hoch wie nie zuvor. Der Sturm wirft mich fast aus dem Gleichgewicht, als wir zurück in die Hütte stolpern. Im Winterraum hüllen wir uns in schwere Lodendecken. Am ganzen Körper zitternd kauern wir in den Stockbetten.

Als Vronis Schüttelfrost nachlässt, fühlen wir uns bereit für ein Gipfelfoto. Arme nach oben und in die Kamera lächeln. Nicht zu lange – ich habe Angst, dass mein Gesicht zu einer Grimasse erstarrt. Ich drücke noch einmal Richtung Matterhorn und in die Italienische Seite ab. Wir werden uns in der warmen Stube der Gnifetti ansehen, wie schön wir es hier heroben gehabt haben.

Abstieg und Abfahrt sind schnell vorüber. Der Untergrund ist pickelhart. Darüber hat die Schlechtwetterfront der gestrigen Nacht Pulverschnee gelegt. An den vor Wind geschützten Stellen geht es richtig gut zu fahren. Ich bin glücklich, dass ich von der Tour neben dem Gipfelsieg und der neuen Erfahrung auch ein paar feine Skischwünge mitnehmen kann.

Kurz nach Mittag sind wir zurück an der Hütte. Am Abend gibt’s dann doch noch Dolce Vita. Wir bekommen Lasagne serviert. Italien, wir sind wieder im Reinen.

Tourdaten

  • Aufstieg: 1.200 Höhenmeter
  • Dauer: 3-5 Stunden
  • Länge: 5,5 Kilometer
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