Dokument: Zu den Äußerungen von Thilo Sarrazin

Dokument: Zu den Äußerungen von Thilo SarrazinDeutsches Institut für Menschenrechte

Zu den Äußerungen von Thilo Sarrazin, Mitglied im Vorstand der Deutschen Bundesbank

„Deutschland schafft sich ab. Wie wir unser Land aufs Spiel setzen“ – so heißt der Titel eines „Sachbuchs“, das nächste Woche im renommierten DVA- Verlag erscheinen wird. Angesichts der Aufmerksamkeit, die Thilo Sarrazins Buch bereits jetzt erzielt, ist es nicht möglich, es zu ignorieren. Mit diesem Beitrag sollen Äußerungen von Thilo Sarrazin insbesondere einer menschenrechtlichen Betrachtung unterzogen werden. Zumal Titel und erste veröffentlichte Auszüge des Buches zeigen, dass Thilo Sarrazin, als Mitglied im Vorstand der Deutschen Bundesbank Inhaber eines hohen öffentlichen Amtes, fortsetzt, was er bereits in der Vergangenheit getan hat.

Dazu zählen diffuse und polemische Ausführungen zur gegenwärtigen Einwanderungspolitik in Deutschland. Dabei zeichnet er ein Bild, als ob Zuwanderung nach Deutschland keiner Steuerung unterliege, so dass Menschen einfach nach Deutschland einwandern und hier Sozialleistungen beziehen könnten. Dies ist mitnichten der Fall.

Die Ausführungen Sarrazins sind nicht nur gekennzeichnet durch mangelnde Sachlichkeit. Sarrazin manipuliert. Dies etwa dann, wenn er Diskriminierung im Bildungssystem und im Bereich der Beschäftigung mit grotesken Thesen einfach leugnet. Außerdem greift er beliebig auf Statistiken zurück, die er so einsetzt, dass sie zu seiner Weltsicht passen. Andere Interpretationsmöglichkeiten bezieht er nicht mit ein. Datenerhebungen oder Ergebnisse wissenschaftlicher Untersuchungen, die zu seiner eigenen Wirklichkeit nicht passen, finden keine Erwähnung.

Deutschland gehört zu den Staaten, die sich – wie die EU und zahlreiche Staaten weltweit – zu den Menschenrechten bekennen. Sarrazins Ausführungen verkennen die Bedeutung von Menschenrechten und internationalem Flüchtlingsschutz. Sofern sie seinen Vorstellungen von Politik entgegenstehen, begreift er sie als lästiges Übel, das beliebig abzuschaffen sei. („In solchen grundsätzlichen politischen Fragen ist nichts alberner als der Hinweis, dieses oder jenes sei rechtlich nicht möglich. (…) Das Grundgesetz ist schon für weitaus unbedeutendere Fragen geändert worden.“) Sarrazin scheint nicht zu verstehen, dass Menschenrechte und internationaler Flüchtlingsschutz den Staat binden. Seine Vorschläge für Änderungen in der Zuwanderungspolitik sind weder mit international gültigen Menschenrechten vereinbar noch mit dem deutschen Grundgesetz. Sie bewegen sich außerhalb der verfassungsrechtlichen Ordnung.

Kennzeichnend für die Äußerungen Sarrazins ist, dass er die Gesellschaft in Deutschland nach dem Muster „Wir“ und die „Anderen“ unterteilt. Innerhalb der „Anderen“ bildet er weitere Untergruppen wie „Türken“ „Araber“ oder wahlweise „muslimische Migranten“, deren Mitgliedern er in verallgemeinernder und herabwürdigender Weise bestimmte negative Eigenschaften zuschreibt. Den Vorwurf rassistischer Denkstrukturen weist Sarrazin dabei von sich. Gleichzeitig greift er zu einem Stilmittel, das bei der Verbreitung solchen Gedankenguts nicht unüblich ist. Er beklagt die Mauern der politischen Korrektheit, um gleichzeitig rassistische Verbalattacken vorzunehmen.

Rassismus setzt kein Gedankengut voraus, das auf biologistischen Theorien von Abstammung und Vererbung basiert. Zwar werden bis heute auch noch Rassentheorien nach biologistischen Kriterien propagiert. Zunehmend basieren rassistische Argumentationsmuster aber auf Zuschreibungen aufgrund unterschiedlicher „Kulturen“, „Nationen“, „Ethnien“ oder Religionszugehörigkeit. Kennzeichnend für Rassismus ist die Konstruktion vermeintlich homogener Gruppen, deren individuellen Mitgliedern pauschal bestimmte Eigenschaften zugeschrieben werden. Damit geht nicht zwingend eine ausdrückliche Hierarchisierung oder Abwertung einher. Die Konstruktion von Gruppen, nach der in „Wir“ und die „Anderen“ unterteilt wird, allein mit dem Ziel sich gegen die „Anderen“ abzugrenzen („Die sind anders, die wollen wir hier nicht“), kann genauso zu gravierenden Ausgrenzungen führen.

In Deutschland werden mit dem Begriff Rassismus oft die Menschheitsverbrechen des Nationalsozialismus assoziiert. Von Rassismus ist häufig nur dann die Rede, wenn es um politisch organisierten Rechtsextremismus geht. Das in Deutschland vorherrschende enge Verständnis von Rassismus hat wesentliche praktische Folgen. Rassismus im Alltag, unterhalb der Schwelle von Gewalt, und strukturelle Diskriminierungen, etwa im Bildungsbereich oder auf dem Arbeitsmarkt, erhalten im Einwanderungsland Deutschland nicht die angemessene Aufmerksamkeit. Sarrazin geht so weit, dass er sie schlicht leugnet.

Gewiss sind Stereotypisierungen, Ausgrenzungen und Diskriminierungen, die in demokratischen Gesellschaften existieren, nicht mit den systematischen und monströsen Verbrechen zur Zeit des Nationalsozialismus gleichzusetzen. Ein Verständnis von Rassismus, das sich auf Rechtsextremismus beschränkt, blendet jedoch den Stand der Wissenschaft und der internationalen und europäischen Debatte aus. Hier lässt sich bereits seit einiger Zeit eine Erweiterung im Verständnis von Rassismus ausmachen. Gleich von mehreren internationalen menschenrechtlichen Fachgremien wurde in den vergangenen Jahren kritisiert, dass in Deutschland ein zu enges Verständnis von Rassismus vorherrscht. UN-Gremien wie auch die Europarats-Kommission gegen Rassismus haben empfohlen, den Rassismusbegriff und den Ansatz in der Bekämpfung von Rassismus zu erweitern.

Deutschland ist als Vertragsstaat der UN-Anti-Rassismus-Konvention Verpflichtungen eingegangen, welche die staatliche Gewalt umfassend binden. Auch die Einführung des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes im Jahre 2006, das ein rechtliches Instrument bietet, sich gegen rassistische Diskriminierungen zur Wehr zu setzen, war menschenrechtlich geboten und stellte nicht nur eine Umsetzung europarechtlicher Vorgaben dar. Zudem enthält die Konvention Verpflichtungen, Rassismus im politischen Raum und im öffentlichen Leben entgegenzutreten. Dahinter steckt die Erkenntnis, dass einmalige Bekenntnisse zu den Menschenrechten nicht ausreichen, diese müssen vielmehr gelebt, praktiziert und verteidigt werden. Welche Ausmaße Diskriminierung und Rassismus in einer Gesellschaft annehmen, ist letztendlich von den Überzeugungen und Einstellungen ihrer Mitglieder abhängig.

Dabei kann der Politik, dem Staat und seinen Institutionen eine wichtige Funktion zukommen, indem sie Maßstäbe setzen. Dazu gehört auch, dass Politiker oder andere Repräsentanten des Staates Rassismus im öffentlichen Raum benennen und die Stirn bieten. Mehr noch: Die Reaktion auf Sarrazins Buch darf nicht dabei stehen bleiben, seine Äußerungen zurückzuweisen. Nicht wenige Kommentatoren verurteilen seine Diffamierungen, kommen aber zu dem Schluss, Sarrazin spreche im Kern die eigentlichen Probleme an. Damit spielen sie der Dramaturgie von Sarrazins Auftritt direkt in die Hände: Sarrazin inszeniert sich als Provokateur, der Tabus bricht. Damit löst er vor allem Reaktionen aus, die sich gegen den Ton und die Schärfe seiner Äußerungen wenden. Wenn nach der Debatte dieser Wochen dann seine Behauptungen auf der Grundlage unwissenschaftlicher und willkürlicher Interpretation von Zahlen als im Kern richtig stehen bleiben, hat Sarrazin sein Ziel schon erreicht. Die gegenwärtige Debatte sollte deshalb zum Ausgangspunkt für eine sachliche Diskussion über die Voraussetzungen einer inklusiven Gesellschaft und über das Verständnis von Rassismus in Deutschland genommen werden.

Dabei muss klar sein: Wesentliche Forderungen Sarrazins nach Rechtsänderungen liegen jenseits des menschenrechtlich Zulässigen und des unveränderbaren Kerns des Grundgesetzes. „Deutschland schafft sich ab“: So gesehen macht der Titel des Buches Sinn.

Autor: Dr. Hendrik Cremer, wissenschaftlicher Referent am Deutschen Institut für Menschenrechte
Berlin, 27. August 2010

Original des Textes (pdf)


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