Thomas Sattelberger war 40 Jahre lang Manager und u. a. Personalchef bei der Deutschen Telekom. Heute ist er Bundestagsabgeordneter und jemand, der im Podcast mit Johannes Ceh starke Thesen zum Thema Diversity vertritt. So auch das Recht von Unternehmen auf einen würdevollen Tod.
Wie Sattelberger das meint und warum Diversity im Wachstumswahn unserer Gesellschaft nicht funktionieren kann, erfahren Sie in diesem Artikel.
Vom Irrsinn des Unternehmenswachstums
Wir alle rotieren im Spinnrad des Kapitalismus.
Die Jahresziele wurden erreicht. Sehr gut. Nächstes Jahr müssen wir aber weiter wachsen.
Wenn ich so etwas von Unternehmern höre, dann stelle ich mir jedes Mal die Frage: Wozu?
Es ist nie genug
Egal, wie weit ein Unternehmen auch kommt: Es ist nie weit genug. Selbst als Sieger in einem Konkurrenzkampf am Ziel angekommen, lautet die Agenda nun, noch schneller, höher und weiter zu hecheln.
Moderne Unternehmen wollen gegensteuern, indem sie ihre Erfolge feiern – beispielsweise durch Incentives: Partys, Reisen, mit einem finanziellen Bonus für die eigenen Mitarbeiter. Aber auch und insbesondere Start-ups rutschen danach sofort wieder in den Wachstumswahn.
Das ist durchaus nachvollziehbar, denn als junges Unternehmen gibt es in der Startphase nur einen einzigen Weg zum Überleben, und der lautet Wachstum. Schneller keimen und in die Höhe schießen als die anderen Gewächse um einen herum. Um im Kampf um das lebensnotwendige Licht nicht im Schatten des Vergessens zu verkümmern.
Die Pflanze begnügt sich aber nicht damit, genügend Licht auf ihre Blätter zu bekommen. Sie will gierig wuchern, immer höher und weiter. Warum? Weil es eben so ist und immer schon so war. Genau hier setzt Sattelberger mit einer berechtigten Frage an:
Wann wird darüber gesprochen, dass Unternehmen ein Recht haben, zu sterben? Warum haben Organisationen und Systeme nicht das Recht auf den Tod?
Und was erntet Sattelberger auf seine Fragen? Betretenes Schweigen im Publikum, als hätte die Beerdigung bereits stattgefunden.
Schade, denn es sind mutige Frage, die sich jedes Unternehmen stellen sollte: Geben wir uns eigentlich die Erlaubnis, mit dem Irrsinn des ständigen Wachstums aufzuhören? Können wir nicht einen Gang zurückschalten, zum Wohle aller Beteiligter? Weil es gesünder und nebenbei bemerkt auch produktiver ist, pünktlich in den Feierabend zu gehen, anstatt sich die Nächte um die Ohren zu schlagen?
Es geht nicht nur um die Frauenquote und Ausgleichsabgaben
Aus unterschiedlichen Richtungen denken: Das ist es, worauf es ankommt.
Wer in den Firmen ist, der wird diese Betrachtung ganz selten vorfinden. Da geht’s um Frauenquote und zahlen wir Ausgleichsabgabe für die Nicht-Beschäftigung von Behinderten oder sonstwas.
Sattelberger negiert diese Dinge nicht, er verdeutlicht – zugegebenermaßen provokant – die Notwendigkeit, Diversity viel tiefgreifender anzusetzen.
Und hier reden wir eigentlich über etwas anderes: Ob geschlossene Systeme überlebensfähig sind oder ob Systeme so offen sind, dass man beim Denken kreisen kann.
Es ist eine Wohltat, Sattelberger zuzuhören, weil er das ausspricht, was jeder denkt. Jedenfalls jeder, der noch die Zeit und den Mut hat, einen Moment lang nicht in das Loblied auf ewiges Unternehmenswachstum anzustoßen.
Probleme des Einzelnen spiegeln sich in der Wirtschaft wider
Unsere Gesellschaft hat ein sehr ungesundes Verhältnis zu den Themen Krankheit, Tod und Laster. Alle sollen aktiv sein, sich selbst optimieren, um die – und das ist wirklich ein unsäglicher aus den USA importierter Ausdruck – die „beste Version ihrer selbst werden“. Als würden wir wie Computer ständig Updates auf unsere Festplatte installieren.
Und genau das tun wir auch:
- Die perfekte Ernährung
- 10 Tipps, wie du noch produktiver wirst
- Vermeide unbedingt diese 5 Fehler beim ersten Date
Hand aufs Herz: Solche oder ähnliche Artikel haben Sie bestimmt schon häufig gelesen. Ich lese und schreibe gern solche Schoten, sehr gern sogar! Aber es gibt eine Grenze und die beginnt beim realen Leben.
Ist es nicht Lebensfreude pur, einmal alle Ernährungsregeln komplett über den Haufen zu werfen und sich den fettigen Burger zu gönnen? Und ist es nicht ein urkomischer Moment, dem neuen Partner beim ersten Date versehentlich Bier auf den Schoß zu schütten? Etwas, woran sich ein Paar noch Jahre später verliebt zurückerinnert? Vorausgesetzt, die Biersituation wurde charmant und mit Humor gelöst. 😉
Menschlichkeit ist das, was uns verbindet
Pleiten, Pech und Pannen eben. Über die wir auch mal lachen können oder Mitgefühl haben, was die Verbindung und Intimität schafft, nach der wir an den falschen Orten wie Dating-Apps suchen.
Eine Welt, in der wir uns von der Mär des ewigen Wachstums versklaven lassen, kommt diese Menschlichkeit abhanden. Das ist keine Lamoryanz von mir, sondern ein Selbstmissbrauch, dem wir alle uns unterwerfen – vom Lagerarbeiter bis zum Manager. Selbst den Wachstumsfanatikern dürfte klar sein, dass dies zu nichts Gutem führt.
Unternehmen sollen zu Talentmagneten werden, ohne die Mitarbeiter an sich zu fesseln.
Unternehmen fordern gern Loyalität ein. Gemeint ist damit oftmals Kadavergehorsam: Der Mitarbeiter soll am besten vom Praktikum bis zur Pension treu ergeben schuften und bloß nicht nach links oder recht blicken.
Diese Internetgiganten, die sind ja so ‘ne Mischung aus feudal und basisdemokratisch, also sehr spitz oben und dann sehr demokratisch im Personalbauch.
Es funktioniert nicht, diesen Kadavergehorsam einzufordern. Und trotzdem wird es ständig versucht. Unternehmen sollten Sattelberger zufolge lieber Talentmagnete werden – indem sie Mitarbeitern erlauben, ihren eigenen Purpose für eine gewisse Zeit zu verfolgen und dann wieder zu gehen. So fühlen sich Menschen frei und wer sich frei fühlt, der bleibt frei-willig besonders gern. Selbst wenn nicht: Dann passt es eben nicht mehr. Auch das gilt es anzuerkennen.
Ein diverses Portofolio an Erfahrungen sammeln
Unsere Bedürfnisse, Träume, Ziele und Wünsche ändern sich permanent. Von Mitarbeitern jahrzehntelange Hörigkeit zu verlangen, ist daher absurd und verkennt komplett die Natur des Lebens. Alles ist im Wandel, wir verändern uns, die Umwelt verändert sich.
In der digitalen Ökonomie ist der Mensch sein eigener Talent-Unternehmer.
Diese Tatsache, die Sattelberger anspricht, klingt für viele Angestellte sicherlich überfordernd. Noch. Denn diese Überforderung basiert auf Ängsten und Annahmen, die das Unternehmertum bzw. die Selbstständigkeit wie ein großes, unzähmbares Monster erscheinen lassen.
Dabei war es noch nie so einfach wie heute, Unternehmer oder Freelancer zu werden. Oder sich wieder fest anstellen zu lassen. Es geht auch schon lange nicht mehr darum, die Selbstständigkeit zu glorifizieren und das Angestelltenverhältnis zu verteufeln.
Artikeltipp: Zurück in die Festanstellung: Ein Weg des Scheiterns?
Ihre Chance ist, dass Sie für sich herausfinden, was für Sie in Ihrer aktuellen Lebensphase passt. Und ihr persönliches Arbeitsmodell entsprechend daran auszurichten.
Das eigene Leben verändern und damit gesellschaftliche Veränderungen anstoßen
Immer mehr Menschen verändern ihre Gewohnheiten: Sie kaufen Bio, meiden Plastik oder fahren mit dem Rad statt mit dem Auto zur Arbeit. Diese vielen kleinen Wandel helfen in Summe dabei, das Zusammenleben in unserer Gesellschaft zu verbessern.
Nun ist es an der Zeit, das eigene Arbeitsleben auf den Prüfstand zu stellen – und zwar gründlicher denn je. Damit wir uns trauen, vielfältige Modelle zu leben und auszuprobieren. Das ist es, was Diversity ausmacht. Vielleicht werden genau dadurch sogar weniger Unternehmen sterben und stattdessen aufblühen. Es lohnt sich, diesen Weg sowohl persönlich als auch strukturell zu wagen.