Wieder einmal hatte es mich in diesem Jahr nach Belgien verschlagen. Nachdem ich dort ja schon zwei Gravel-Events mitgemacht hatte, sollte der „Dirty Boar" einen weiteren, harten Höhepunkt für mich darstellen. Ein Kumpel hatte mich dazu überredet und uns angemeldet. Am Ende waren wir dann vier Leute, die sich in der Region des Hohen Venn über fast 170 Kilometer durch Höhen und Tiefen auf feinsten Gravel-Geläuf quälen wollten. Da der Start an diesem Samstag im September schon um 7 Uhr morgens stattfand, reisten wir schon freitags Abends an. Während zwei mit dem Wohnwagen kamen und sich auf einen kleinen Campingplatz niederliessen, trollten Markus ( hier der Link zu seinem Blog „Heldenkurbel" ) und ich uns in eine sehr rustikale Unterkunft, wo wir aber tatsächlich fürsorglich am Samstagmorgen um 6 Uhr frische Brötchen bekamen. Vier andere Rad-Verrückte waren ebenfalls anwesend und schoben sich noch etwas Energie zwischen die Kiemen. Die waren ziemlich angespannt, während wir schon recht munter waren. Man muss ja auch nicht alles so verbissen sehen.
Zuerst hatten wir überlegt, mit dem Rad einfach zum Start zu fahren. Es waren ja eigentlich nur ein paar wenige Kilometer. Aber da hätten wir schon viel zu viele Höhenmeter in den Beinen gehabt und unser Energielevel auf dem absteigenden Ast. So schauten wir, dass wir noch einen Parkplatz bekamen. Das war kein Problem. Pünktlich zum Aussteigen, die Fahrräder vom Hänger ladend und die wichtigen Dinge am Rad befestigen fing es an unangenehm zu fisseln. Nebel lag über Landschaft. Dazu gesellte sich ein wenig Hektik, denn es waren keine fünf Minuten mehr bis zum Start. Und so kam es, wie es kommen musste. Alles, was man sich am Vorabend durchdacht zurechtgelegt hatte, wurde jetzt zu hastig montiert oder glatt vergessen. Meine Riegel blieben daheim, die kleine Satteltasche mit Ersatzschlauch und Reifenheber im Auto. Ich konnte nur hoffen, das meine jungfräuliche Hinterradbereifung im Form des neuen Conti Terra Speed jeden Move gutmütig mitmachte. Keine guten Vorraussetzungen also. Wenigstens den Fender fürs Hinterrad hatte ich dabei. Nicht unbedingt standesgemäß für einen Crosser, dafür aber praktisch bei dem Wetter.
Am Start blieben uns nur noch Momente, um die anderen beiden zu finden und uns einzureihen, es wurde in kurzen Intervallen gestartet um das Feld ein bisschen zu entzerren. Und dann waren wir auch schon zu viert unterwegs. Welch ein Segen bei so einem Schmuddelwetter durch die Pampa des Hohen Venn zu pfeffern. Ich ahnte schlimmes. Ein Schild mit Aufschrift „Pavement Ends. Ride Gravel!" zeigte uns nach wenigen Metern über Asphalt: „Jetzt wird's ernst!" Und schon knirschte der Kies unter unseren Bereifungen.
Der Nebel wabberte über die Hänge, die Aussicht hier oben am „Signal de Botrange", dem höchsten Punkt Belgiens auf rund 700 Metern Höhe, tendierte gegen null. Viel schauen konnte man eh nicht, denn äußerst spitze und grobe Steinchen ebneten uns den Weg. Und da es zunächst meist leicht abwärts ging, musste man sich höllisch konzentrieren. Wer sich hier langlegte, der musste mit bösen Verletzungen und hohen Materialschäden rechnen. Doch die Laune war gut bei diesen leichten Abfahrten, die richtig Spaß machten. Der Track versteckte noch seine fiesen Rampen.
Allerdings nicht zu lange. Mittlerweile waren die meisten Fahrer, die man auf der Piste sah, von den matschigen und feuchten Wegen schon ganz schön versifft, die letzte Kälte wurde jetzt an ein paar Anstiegen aus den Knochen getrieben. Der Track führte nicht immer nur über schwere Gravelroads, manchmal gab es auch Entspannung vom Gerüttel auf kurzen Asphalt-Passagen. Da hieß es einmal durchpusten, um dann direkt wieder über Schotter zu kurbeln. Wie gut alles organisiert war, konnten wir anhand der Streckenposten an den Straßenüberquerungen sehen. Mit Stop-Kelle wurde der motorisierte Verkehr von den zahlreichen Helfern angehalten, damit wir ohne abzubremsen das Asphaltband überqueren konnten. Sehr bemerkenswert in dieser Form!
Nach einer rauschenden Abfahrt mussten wir die Räder direkt wieder in die Höhe wuchten. Die Passage hatte dort am „Ochsenkopf" fast 14 Prozent, eine gute Übersetzung war da von Vorteil. Oben war kurz wieder durchatmen angesagt, um auch schon wieder direkt auf tollste Gravelwege abzubiegen. Und plötzlich war da ein Verpflegungspunkt. Mittlerweile waren wir auf der deutschen Seite der Route angekommen. Mit dem Stop hatten wir eigentlich nach fünfzig Kilometern noch gar nicht gerechnet. Auf halbem Weg einen Hügel hinauf war dort auf einem Feld alles notwendige für die Fahrer hergerichtet. Ein buntes Durcheinander war dies nicht mehr, da alle Räder und Teilnehmer mit der selben, braunen Mocke überzogen waren. Hier konnte man seine Trinkvorräte auffüllen, Obst oder Waffeln essen und auch für's Wohlbefinden des Bikes war gesorgt in Form von diversen Werkzeug-Tools.
Doch als Timo kurz nach uns ankam, gab es allerdings für ihn ein gravierendes Problem mit seiner Kassette und leider ausgerechnet kein passendes Tool dafür. Das Ding hatte sich aus ungeklärten Gründen gelockert, das Schalten funktionierte nicht mehr richtig. Die Sperrklinken gaben beim einfachen Abziehen der Kassette ihren letzten Atemzug und der Drops war gelutscht. Technischer K.O. Man, das tat mir echt leid für ihn. Doch er konnte von Glück reden, da er es wenigstens noch bis hierhin geschafft hatte, wo sein Rad per Transporter zurückgebracht werden konnte. In der Einsamkeit des Hohen Venn wäre das zu einem echten Problem geworden. Miro entschloss sich bei Timo zu bleiben und zu helfen. So war aus einem Quartett nun nur noch ein Duo übrig.
Auffällig waren auch die vielen Pannen anderer Fahrer unterwegs. So viele platte Reifen empfand ich als ungewöhnlich. Entweder haben manche noch nie etwas von Reifendruck gehört, aber wahrscheinlich waren die meisten eher etwas unbedarft. Wiederum andere in den hipsten Bike-Klamotten konnten mit ihren Bikes brettern, was das Zeug hält, um kurz darauf wieder am Rand zu stehen und ihre Reifen zu flicken. Unglaublich. Zumindest waren sie anscheinend flink darin, denn dieses eine Grüppchen passierte uns bestimmt vier-, fünfmal. Auch so etwas gab es. Ich konnte nur hoffen, das mir nicht auch so eine Panne passierte. Bei mir war es Schludrigkeit gewesen, als ich die kleine Saddlebag im Auto vergaß.
Die Wälder ringsherum empfingen uns gleichzeitig mit frischer, kühler Luft. Aber auch immer wieder kurzweiliger Regen stellte sich ein. Zumindest immer dann, wenn es Markus zu warm wurde und er seine Regenjacke auszog. Ohne Ausnahme. Wir mussten schon lachen darüber. Irgendwann liess er sie einfach an. Der Regen war danach nicht mehr gesehen.
Die Hänge und Wege am Hürtgenwald waren fordernd und anstrengend. Der Untergrund war rutschig, an Wiegetritt zwischendurch war nicht zu denken. So kämpfte ich mich einen Anstieg mühsam hoch. Fast wäre ich da vom Rad gestiegen. Aber die Blöße wollte ich mir nicht geben. Das war keine Option für mich. So gemein auch so manche Rampe war, ich versuchte immer in einem gewissen Rhythmus zu kommen und hochzukurbeln. Meistens gelang mir das auch. Bei den Abfahrten wurde es mir dagegen manchmal schon recht mulmig. Besagter grober, dicker und spitzer Schotter bei hoher Geschwindigkeit sollte einem zumindest ein bisschen Respekt einflössen.
Bei Sief-Schmithof trafen wir das erste Mal auf die bekannte Vennbahn-Trasse. Natürlich überquerten wir sie nur und liessen diese Komfortzone schnell hinter uns oder fuhren einfach parallel zu ihr durch den Wald um sie dann doch wieder zu überqueren. Sehr lobenswert war die Ausschilderung der gesamten Strecke! An jeder Abzweigung war ein auffällig gelber Holzpfeil mit Dirty Boar-Logo angebracht. Das muss bei der Länge der gesamten Strecke schon eine enorme Mühe gewesen sein. Respekt!
Die hügelige Landschaft lies selten, aber immerhin, auch mal den Blick in die Ferne schweifen. Aber immer nur kurz, denn die Strecke verlangte einem einiges ab und man musste sich jederzeit konzentrieren. Nach rund 100 Kilometern gab es dann den nächsten Verpflegungsstopp ganz in der Nähe der Wesertalsperre. Nur einen halben Kilometer vorher hatten wir für uns entschieden, an einer Bank Pause zu machen, ohne zu wissen, das es nur wenige Meter weiter wieder etwas zu futtern und trinken gab. Den Stopp nahmen wir trotzdem dankend mit. Meine Schaltung ließ langsam zu wünschen übrig. Zwei kleinere Gänge ließen sich nur noch schwer schalten und sprangen schon mal hin und her. Die Züge waren von Dreck nur so überzogen und ich hoffte, mit etwas Wasser das Problem lösen zu können. Die Jungs vom Dirty Boar konnten am Straßenrand bei einer Wasserstelle nämlich Wasser abzapfen. Ich brauchte nur mein Rad unter den kleinen Hahn zu halten. Da kam dann Wasser mit so viel Druck raus, das ich behaupten würde, das Fett auf der Kette wäre auch komplett weg gewesen. Aber immerhin war die Schaltung wieder sauber. Das Problem blieb allerdings. Ich musste damit klarkommen, auch wenn das Schalten immer wieder zwischendurch nervte.
Nach der imposanten Wesertalsperre folgten wieder tiefe, ruhige Wälder. Und immer permanent leicht ansteigende Wege. Das Vorgeplänkel für den letzten Teil des Dirty Boar. Das Diagramm mit den Höhenmetern auf meinem Wahoo zeigte mir an, der anstrengendste Teil sollte noch kommen. Eine gewisse Monotonie schlich sich bei den Anstiegen ein. Ja nicht zu viel denken. Konzentrieren. Und so blieb der Blick meistens auf den Boden vor mir gerichtet, um üblen Steinen aus den Weg zu gehen. Davon gab es zu Hauf. So kämpften wir uns Meter für Meter immer mehr in die Höhe. Die Natur des Hohen Venn zeigte sich von ihrer grünen Seite, verzerrte graue Wolken bildeten einen ordentlichen Kontrast dazu. Die Luft fühlte sich gut an in der Lunge, trotz der Anstrengung. Ich versuchte, mit einer ruhigen und gleichmäßigen Atmung auch einen ruhigeren Puls zu bekommen. Das gelang mir ganz gut. Nach hinten raus hatte ich spürbar mehr Kraft. Bewusster zu atmen hatte ich mir das letzte halbe Jahr bei solchen Fahrten versucht anzugewöhnen. Das kann durchaus helfen sich so die Kraft etwas besser einzuteilen.
„Heavy Rotation" könnte man das Radfahren hier auch nennen. Doch am Ende war die Belohnung auf der Hochebene des Venn riesig. Der Wald lichtete sich und eine irre Weite eröffnete ganz neue Blicke. Schnurgerade führte der „Gravel-Highway" hindurch. Wow! Ich fand das hier toll! Bis man irgendwann am Horizont den Weg aufwärts führen sah! Ein Anblick, als ob man gegen eine Wand fährt. Wie Perspektiven täuschen können. So schlimm war es dann zum Glück nicht und kurz darauf kamen wir zum nächsten Verpflegungspunkt. Hunger! Hier gab es in ökologisch einwandfreien Schüsseln warme Nudeln mit Parmesan und Ketchup. Dazu wieder die Wasser-Tanke anbei! Perfekt.
Zu den anstrengendsten Passagen kamen nun auch noch Bauchläufe und die matschigsten Wurzelwege hinzu. Das Adrenalin schoss jedes Mal in den Körper, wenn das Bike wieder wegrutschen wollte. Da musste ich mich höllisch fokussieren, um mich nicht zu zerlegen. Und immer weiter ging es aufwärts. Ein Fahrer, der kurze Zeit neben mir fuhr und im letzten Jahr schon teilgenommen hatte, erzählte mir, das die härtesten Abschnitte auf den letzten 15 Kilometern kommen würden. Schönes, aufbauendes Gespräch. Toll.
Wald und Venn gingen wieder ineinander über. Natürlich ging es aufwärts. Lange, gerade Passagen, die motivationsmäßig zermürben können. Monotonie beim Kurbeln, gleichmäßige Pedalumdrehungen und aufpassen auf spitze Steine. Keuchend waren wir nach jeder Kurve dankbar, wenn auch nur für kurze Zeit, wenn's mal gerade wurde. Bevor es wieder steigend nach oben ging. Und damit man hier auch schön schwitzt, ließ sich die Sonne hier schon mal kurz blicken.
Doch auch das geht vorbei. Irgendwann kommt man auch wieder runter. Schroffe Felswände links und rechts kündeten dafür vom letzten, gefühlt härtesten Teil. Eher für Mountainbikes gedacht, fuhren wir über schmale Pfade, schoben die Räder über die sichere Holzbrücke anstatt durch den Bachlauf mit den dicken Steinbrocken zu brettern (andere wussten es besser und...wurden nass!) und fluchten bei den letzten zwei Kilometern, die fast unmöglich steil aufwärts gingen, bitterlich vor uns hin. Dieser Trail war wirklich übel und teilweise schoben wir, weil es einfach nicht anders ging.
Und dann war es so weit. Nur noch wenige Meter. Durch das Zieltor. Jubel, Tröten und Hurra! Nichts davon. Einfach durch, niemand der uns empfängt. Einfach so. Ohne Tusch am Ende. Leicht fertig schoben wir die Räder neben das Toilettenhäuschen, verrichteten unsere Dinge, schoben die Räder an eine Hecke und ließen sie dreckig wie sie waren, dort liegen. Die Belohnung in Form der Steuersatzkappe mit dem Logo des Dirty Boar obendrauf holten wir uns noch ab. Ein paar Fotos vom Borstenvieh als Andenken gemacht und ab in die muckelig warme Holzhütte. Bier, Fritten und Frikandeln. Überall saßen oder standen Fahrer, dreckverkrustet und stinkend. Aber alle glücklich und mit einem glückseligen Lachen in den Mundwinkeln. Es wurden die Geschichten des Tages erzählt, es wurde gelacht, während es draußen nun regnete. Wir saßen noch lange hier in der Holzhütte, trafen ein paar bekannte Gesichter und hatten einen schönen Abend. Und dann lichteten sich tatsächlich noch die Wolken im restlichen Tageslicht und gaben zum Schluss noch einmal einen weiten Blick in das Hohe Venn frei. Was für ein Hammer-Tag!