Dirigieren ist ein Feld für viele Scharlatane geworden

Von European-Cultural-News

 

Der Dirigent Martin Fischer-Dieskau (c) OPS


Herr Fischer-Dieskau, Sie sind sehr kurzfristig nach Straßburg gekommen, da Sie für Darell Ang eingesprungen sind, der aufgrund der Aschewolke über Europa nicht anreisen konnte. Sie dirigieren hier an drei Abenden hintereinander das OPS, das Orchestre philharmonique Strasbourg, mit Konzerten von Haydn, Mozart und Schubert.

Ja, das stimmt, das war eine sehr überstürzte Anreise. Ich bekam den Anruf am Montagmorgen und eineinhalb Stunden später saß ich schon mit den Partituren im Auto. Zum Glück hatte ich sie zuhause und kannte sie natürlich auch. Aber dennoch war es anstrengend. Schon während meiner Anreise hatte ich immer während des Fahrens ein Auge nebenbei in der Partitur!
Sind Sie schon öfter so knapp eingesprungen?

Ja, es kommt ja immer wieder vor. Das erste Mal erinnere ich mich, musste ich eine Oper in Neapel dirigieren. Damals war ich noch sehr jung und sehr aufgeregt. Heute ist das ja etwas anders und eigentlich sollte man so kurzfristige Engagements nicht machen, aber hier war es ja eine absolute Ausnahmesituation. Das Orchester konnte ja nicht alleine spielen!

Welchen Eindruck haben Sie vom OPS?

Ich habe festgestellt, dass das Orchester sehr, sehr gute Solisten hat. Der Hornist – übrigens ein Engländer – (Anm: Kévin Cleary) ist unglaublich gut, sehr präzise und gibt alles, was er hat. Auch der Oboist (Sébastien Giot) ist unglaublich, nicht zu vergessen der Cellist (Olivier Roth). Und dass der Solist des Mozartkonzertes Vladlen Chernomor noch gar nicht lange beim Orchester ist, wusste ich gar nicht. Es ist ja sehr mutig, vor dem eigenen Orchester als Solist aufzutreten. Die Kolleginnen und Kollegen sind ja mitunter auch die schärfsten Kritiker. Aber Chernomor hatte in den Proben bis zur Premiere dieses dreitägigen Zyklus eine ständige Weiterentwicklung.

Wie kamen Sie eigentlich dazu Dirigent zu werden, was war Ihre Motivation?

Ich dirigierte, noch zur Zeit meines Abiturs, eine Opernaufführung in der Charlottenburg in Berlin. Ein alter, jüdischer Kapellmeister, der emigrieren musste und wieder zurückkam, wie so viele seiner Generation, sah mich und sagte zu mir: „Junge, du musst das unbedingt zu Deinem Beruf machen!“

Wie sehen Sie die Rolle des Dirigenten?

Ein Dirigent ist dann gut, wenn die Musiker das Gefühl haben, dass sie ungestört spielen können. Natürlich muss ich die Grundparameter vorgeben und richtig atmen, muss den richtigen Grundpuls vorgeben. Aber der Fokus in einem Konzert darf nicht auf den Dirigenten gerichtet sein. Der Dirigent sollte einerseits nicht stören, andererseits aber alles bestimmen. Das Bild des Komponisten, das seiner Musik, sollte über dem Dirigenten und über dem Orchester emporsteigen. Dirigieren ist heute aber auch ein Feld für viele Scharlatane geworden. Es gibt heute sehr viele Musiker, Solisten ohne fachliche Ausbildung, die dirigieren. Orchester haben oftmals keinen Qualitätsmaßstab mehr, was ein guter Dirigent ist und was nicht. Eine enorme Anzahl an jungen Menschen studiert auch das Fach und drängt in den Beruf, aber wir alle wissen, ein guter Dirigent kann nicht jung sein. Das geht einfach nicht. Es fehlt die Erfahrung, mit der einfach die Qualität des Dirigierens zunimmt. Das Studium des Dirigierens beinhaltet ja eine ganze Reihe von Fächern, die alle wichtig sind – ob es das Partiturspiel oder die Schlagtechnik oder noch vieles andere ist. Das kann man nicht einfach ohne Ausbildung in gleicher Qualität abliefern. Ich zum Beispiel dirigiere so gut ich immer kann, auswendig. Denn, wie Celibidache einmal sagte: Man muss das Ende schon im Anfang spüren, um richtig dorthin zu navigieren. Obwohl Celibidache in gewisser Weise auch ein Scharlatan war – aber ein sehr liebenswerter! Leider ist die Zeit heute oft zu kurz. Vieles muss man sich daher schon im Vorhinein erarbeiten, um auswendig dirigieren zu können. Maazel oder Ozawa, unter denen ich ja gearbeitet habe, dirigieren ebenfalls auswendig. Die Welt des Dirigenten ist total getrennt von dem des Orchesters. Der Dirigent und das Orchester sprechen keine gemeinsame Sprache. Ein guter Orchestermusiker hat ganz andere Qualitäten als ein guter Dirigent. Ich für meinen Teil könnte zum Beispiel nicht in einem Orchester spielen. Ein Dirigent hat eine große Verantwortung. Er spielt auf einer Klaviatur, wobei der Ausdruck Klaviatur viel zu mechanisch ist, die aus lebenden Menschen und seelischen Pflänzchen besteht. Ich spüre immer wieder, wie groß meine Macht aber zugleich auch meine Verantwortung ist, denn alles was ich falsch mache, das hört man natürlich auch sofort.
Viele glauben, Dirigent sein bedeutet gleichzeitig auch Karriere machen. Das ist aber der falsche Zugang. Es gibt nur wenige, die zum Dirigieren tatsächlich einen musikalischen Zugang haben. Dieses absolute Streben nach Karriere ist nicht gut. Lange Karrieren, wie sie früher üblich waren, gibt es heute gar nicht mehr. Heute sind Verpflichtungen die über zwei, drei Jahre gehen normal. Nach drei Jahren erfolgt meistens ein Wechsel, oft auch erzwungen. Als Dirigent braucht man einen Machiavelli´schen Instinkt, um überleben zu können. Man muss Allianzen schließen können, manches Mal mit dem Intendanten kämpfen. Alles Dinge, die schwierig sind, aber auch dazugehören. Das Musikalische tritt hier ganz in den Hintergrund. Einer der großen Ausnahmen ist Nikolaus Harnoncourt. Er hat es geschafft, hier ganz abseits zu stehen und einfach seine Musik zu machen, so wie er es möchte. Das ist sehr zu bewundern. An ihm zeigt sich, dass Qualität doch auch noch siegen kann. Ich glaube fest daran, dass es letztendlich die Qualität ist, die einem Dirigenten zu Erfolg verhelfen kann, auch wenn es vielleicht länger dauert. Sehen Sie sich einmal die Karriere eines anderen großen Dirigenten, Georges Prêtre, an. Er ist heute im hohen Alter nach wie vor einer der wichtigsten und besten seines Faches. Das stimmt mich sehr zuversichtlich. Auf der anderen Seite ist es zu beobachten, dass der Trend immer mehr dazu geht, schlanke, sportliche Dirigenten zu verpflichten, dass das Aussehen immer wichtiger wird. Das ist eine falsche Entwicklung. Mir macht es zum Beispiel große Freude, mein Können zu erproben und ich bin der Meinung, der Erfolg sollte sich aufgrund des Könnens einstellen.

Sind Sie in einer speziellen Musikrichtung beheimatet?

Nein, überhaupt nicht. Ich spiele und höre vieles gerne. Das, was gerade angesetzt ist, finde ich immer toll. Man kann ja auch nicht zwischen Homer und Goethe aussuchen, entweder das eine oder das andere. Man braucht ja beides. Von meinem Elternhaus her war ich natürlich stark in der deutschen Romantik verwurzelt, habe mich viel mit Mozart auseinandergesetzt und der ital. Oper. (Anm: Martin Fischer-Dieskau ist der Sohn des Baritons Dietrich Fischer- Dieskau, der in diesem Jahr seinen 85. Geburtstag feiert) Aber ich habe keine Präferenzen. Was ich jedoch bedauere ist, dass es in den Konzerten immer weniger Mut zu progressiveren Programmen mit eher zeitgenössischer Musik gibt oder auch von Komponisten, die weniger bekannt sind. Die Programme sind ganz traditionalistisch geworden. In Taiwan konnte ich beobachten, dass die Komponisten, die in Europa studierten nach Hause kamen und Kompositionen verfassten, die ganz europäische Wurzeln hatten. Die Stücke wurden einfach mit einem taiwanesischen Instrument ergänzt, und das war dann die zeitgenössische Aufarbeitung. Antal Dorati, der berühmte Dirigent, komponierte auch. Meine Tochter, die gerade 20 geworden ist, spielte sein Klavierkonzert in Israel und in der Türkei. Ich denke, dass sie sehr begabt ist, was ihr auch ihr eigener Großvater bescheinigte. Am Sonntag (Anm: 25.4.10) wird sie ein Chopinkonzert in Hamburg spielen unter einem jungen Dirigenten, der einer meiner Schüler war. Ich werde dabei sein und bin schon sehr gespannt.

Gibt es etwas, das Sie sich persönlich für die Zukunft wünschen?

Ja, es wäre schön, einem eigenen Orchester vorzustehen und zwar für längere Zeit. Ein Orchester, mit dem man etwas aufbauen kann, ein Programm, das nicht nur über eine Saison, sondern über mehrere geht, mit einem roten Faden, der sich durchziehen kann. Ich bin noch immer auf der Suche nach dem „goldenen Weg“, der sich durch Offenheit auszeichnet und nicht durch politisches Kalkül. Ich wünsche mir, dass ich nicht wegzudenken bin, mich aber auch ständig weiter entwickeln kann. Es gibt so vieles, was ich noch machen möchte. Ich habe ja erst vor Kurzem mein musikwissenschaftliches Studium abgeschlossen. Ein Studium auch noch spät zu beginnen würde ich allen Musikern, vor allem Orchestermusikern, ans Herz legen. Und ich würde mir wünschen, dass sich die Musiker und die Dirigenten nicht allzu wichtig nehmen!

Herzlichen Dank für das Interview!