Dinge, die es nicht gibt: Digitale Demenz

Nicht alles, was wie Wissenschaft daherkommt, ist tatsächlich das Ergebnis wissenschaftlicher Forschung. Derzeit wird in sämtlichen Medien ein Forscher durchgehechelt, der heraus gefunden haben will, dass das Internet doof macht – insbesondere die Langzeitwirkungen sollen fatal sein: Das Ganze nennt sich entsprechend plakativ Digitale Demenz.

Prof. Dr. Dr. Manfred Spitzer, seines Zeichens Psychiater oder “Hirnforscher”, wie er in den einschlägigen Artikeln bevorzugt bezeichnet wird, warnte in der Vergangenheit bereits eindringlich vor den Gefahren von Bildschirmgeräten, ganz gleich, ob es sich um nun um Fernseher oder PC handelt, was durchaus nicht dasselbe ist. Aber ich will ja nicht kleinlich sein. Wobei ich mich durchaus erinnern kann, in der Zeit meines Studiums aus rein wissenschaftlichem Interesse zahlreiche Studien zum Fernsehkonsum konsumiert, äh, studiert, zu haben – meistens kam am Ende heraus, dass Fernsehen nicht unbedingt dumm macht. Allerdings scheinen ohnehin schon nicht so schlaue Menschen durchs Fernsehen auch nicht schlauer, sondern dümmer zu werden – während die eher aufgeweckten unter den Zuschauern durchs Fernsehen durchaus noch dazu lernen können. Denn die einen ziehen sich auf die niederen Instinkte optimiertes Primatenfernsehen rein, die anderen folgen eher dem manchmal in Ansätzen noch vorhandenen Bildungsauftrag der öffentlich-rechtlichen Fernsehsender und schalten auch mal Spartenprogramme wie arte, 3Sat oder Phoenix ein.

So sieht digitale Demenz im Internet aus

So sieht digitale Demenz im Internet aus

So ist das nun mal: Was für die einen nicht gut ist, muss nicht schlecht für die anderen sein. Überhaupt stimme ich mit dem Professor durchaus überein, wenn er sagt, dass Kinder nicht vor den Computer (oder Fernseher) gehören, jedenfalls nicht den ganzen Tag. Die sollen auch mal rausgehen und sich bewegen! Na aber klar, wie sollen sie das Überleben im Großstadtdschungel denn sonst lernen!

Das meine ich völlig ironiefrei – trotzdem muss ich auch immer wieder der Versuchung widerstehen, die Kinder einfach den ganzen Tag daddeln oder glotzen zu lassen – dann weiß ich wenigstens, wo sie sind, und dass ihnen schlimmstenfalls nur digitale Demenz droht, während ich niemals sicher sein kann, ob, wann und in welchem Zustand sie nach Hause kommen, wenn sie sich tatsächlich vor die Haustür bewegen.

Wir wohnen nun mal mitten in Berlin. Und wenn sie dann mit glänzenden Augen erzählen, wie toll das am Wochenende wieder war – im Park mit dem brennenden Sofa, wenn nur die Feuerwehr nicht so schnell gekommen wäre oder auf der Party, wo dann leider der und der besoffen gegen die Tür gelaufen und der alarmierte Rettungswagen nicht gleich die Polizei mitgebracht hätte, weil es hieß einer sei nicht gegen die Tür, sondern aus dem Fenster, bei einer Wohnung im 9. Stock, aber zum Glück haben sie keinen gefunden, da unten, oder neulich auf dem Dach von dem Abbruchaus, was leider jetzt so schwierig zu erklimmen sei, weil überall diese blöden Absperrungen, weil der Besitzer so humorlos, und dann diese ganzen Typen aus dem anderen Kiez, die sie neulich so dreist abgezogen haben, gut, dass die nicht kapiert haben, dass das Handy nicht im Beutel, der dann geklaut wurde, sondern in der Hosentasche… gehören Kinder im Teenager-Alter nicht vielleicht doch besser vor einen Bildschirm?

Als jemand, der überhaupt keinen Draht zu Computerspielen hat, sehe ich bei diesem Thema auch in erster Linie die Suchtgefahr und weniger, dass man daraus vielleicht etwas fürs Leben lernen kann – ich habe allerdings schon mal mit einem zusammengelebt, der sein Leben im wahrsten Sinne des Wortes verspielt hat. Insofern kann ich aus Erfahrung sagen, dass es einem im wahren Leben überhaupt nichts nützt, wenn man Civilisation im Gott-Modus komplett durchspielen kann, während man weder seinen Job, noch sein Privatleben geregelt kriegt. Am Ende ist nur der Totalabsturz garantiert – nur dass es dann keine neue Runde und schon gar kein neues Leben gibt, sondern einen Haufen Schulden und eine kaputte Familie. Insofern bin ich durchaus kritisch, sogar extrem skeptisch, was exzessive Computer(spiele)-Nutzung angeht.

Allerdings sollte man solche Entgleisungen nicht mit “dem Internet” und den verschiedenen Formen der Internet-Nutzung in einen Topf werfen – ich bin mir sicher, dass “das Internet” an sich niemanden blöd macht – im Gegenteil, wenn man mal schnell etwas wissen will, ist es eine vielseitige und sehr ergiebige Informationsquelle. Während es vor 20 Jahren noch ziemlich mühsam war, sich in meistens ohnehin veralteten und schlecht gepflegten Bibliotheken Informationen über aktuelle Themen zu beschaffen, wirft man jetzt einfach seinen Computer an und schaut schnell mal nach – absolut paradiesische Zustände für wissbegierige Menschen! Natürlich gibt es im Internet auch viel Müll (“Das Internet ist ein großer Misthaufen“, Joseph Weizenbaum), und genau hier ist der sprichwörtliche gesunde Menschenverstand gefordert. Der aber laut Spitzer verkümmert, wenn man sich mit diesem ganzen Mist beschäftigt. Leider trägt der Professor aber entscheidend zur Mistproduktion bei, wie eine Analyse von Martin Lindner (nein, nicht der FPD-Politiker, sondern der Medienwissenschaftler. Lindner ist Professor für digitale Medienwisschaft und überhaupt nicht dement) zeigt.

Es hätte mich schon sehr gewundert, wenn eine seriöse wissenschaftliche Untersuchung zu dem Ergebnis gelangen könnte, dass digitale Medien dement machen. Wie sollte das auch gehen? Natürlich gibt es ganz allgemein eine Tendenz, einen Trend dazu, sich mit Dingen nicht mehr ernsthaft zu beschäftigen – das liegt aber nicht am Internet, sondern daran, dass heute ganz allgemein die Zeit immer zu knapp ist – wie soll man dann sich denn noch ernsthaft mit was auch immer beschäftigen, wenn man eigentlich Geld verdienen, für die Zukunft vorsorgen, sich fit halten und sich sonst in jeder Hinsicht für die geforderten Belange der aktuell herrschenden Verhältnisse optimieren muss?!

Das liegt aber nicht am Internet, sondern daran, dass das Leben immer teurer wird, während es gleichzeitig immer schwieriger ist, genug Geld zu verdienen, um sich dieses ganze tolle Leben inklusive Internetanschluss überhaupt leisten zu können. Wer bekommt denn heute noch Geld für einen vernünftigen Job? Das Geld wird dort verdient, wo es nicht auf Sachkenntnis und Erfahrung ankommt – solche Jobs gibt es auch, und sie werden, wenn man früh genug angefangen hat und ein bisschen Glück hatte, auch okay bezahlt, aber eben nicht wirklich gut. Es wird den jungen Leute vermittelt, dass es geil ist, Superstar zu werden anstatt sich um einen richtigen Job zu bemühen, um man mutet auch niemanden mehr zu, sich ernsthaft mit irgendetwas befassen zu müssen – in der Schule und im Studium kommt es ja nur darauf an, zur richtigen Zeit die richtigen Antworten zu wissen – wozu irgendwas am Ende gut ist, interessiert doch keinen mehr. Alles, was nicht sofort zu Geld gemacht werden kann, ist nichts wert! Dass es unter diesem Umständen am Ende vielleicht tatsächlich mehr Leute gibt, die nicht mehr wissen, wer sie sind, und wozu dieses ganze Leben gut sein soll, mag sein. Aber am Internet liegt das ganz bestimmt nicht.



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