Dimensionen des Sexismus-Skandals

Von Oeffingerfreidenker

Von Stefan Sasse


Rainer Brüderle hat auf dem FDP-Dreikönigstreffen 2012 eine damals 28-jährige Journalistin sexuell belästigt. Man mag das überraschend finden, aber für jemanden, der einen guten Teil seines Images auf seiner Liebe zu Weinköniginnen aufbaut, ist das vermutlich der natürliche Gang der Dinge. Der Stern, der den Skandal öffentlich gemacht hat, überschrieb den zugehörigen Artikel mit beißender Schärfe mit "Der Herrenwitz". Brüderles Verhalten entstammt einer Zeit, die man eigentlich besonders in der öffentlichen Sphäre überwunden glaubte, eine Zeit, in der "Herren" die Geschicke der Welt bestimmten und in der Frauen lediglich eine Statistenrolle innehaben. Dass diese Welt zumindest in der Geisteswelt von Rainer Brüderle immer noch existiert, ist die erste Dimension dieses Skandals. Die pure Existenz eines so offenen Sexismus lässt einen ebenso fassungslos zurück wie der erst letzte Woche beschriebene Sexismus, den die Piratenpartei offenkundig pflegt, wenn sie missliebigen Journalistinnen Prostitution andichtet. Auffällig ist hier übrigens, dass es sich tatsächlich um eine rein männliche Dimension handelt. Niemand würde einem männlichen Journalisten vorwerfen, dass er für seine Informationen mit Ursula von der Leyen oder Kristina Schröder anbandeln würde. Allein die Vorstellung ist absurd. Dass wir es bei Rainer Brüderle sofort und unbesehen glauben, lässt tief blicken. 


Die zweite Dimension des Skandals ist die Reaktion der Betroffenen, besonders in der FDP. Während innerhalb der Piraten, typisch für die Partei, sofort ein entsprechender Streit losbrach, verbunden mit einer Diskussion über Konsequenzen, schloss die FDP die Reihen. Wolfgang Kubicki bemerkte spitz, dass es ja schon verwunderlich sei, dass die Journalistin über ein Jahr gebraucht hätte, um "ihr Ereignis zu verarbeiten", und Jörg-Uwe Hahn erklärte den Artikel gar zum Tabubruch. Es ist besonders Hahns Aussage, die die zweite Dimension des Skandals darstellt und ihn, fast noch mehr als Brüderle selbst, zum Rücktritt nötigen sollte. Der Tabubruch besteht für ihn nicht in der sexuellen Belästigung durch Brüderle, sondern darin, darüber zu berichten und sie als solche anzuprangern. Das ist harter Tobak, und erinnert an die Reaktionären, die vergewaltigen Frauen die Schuld geben, weil sie sich ja nicht hätten attraktiv anziehen müssen. Zumindest kann man mit nur etwas bösem Willen Kubicki so verstehen - erst hat's ihr gefallen, und jetzt prostituiert sie sich für's Rampenlicht. Kubicki und Hahn beweisen beide, dass Brüderle keinesfalls ein Einzelfall ist. Diese zweite Dimension gehört zum eigentlichen Aufmacher gemacht, nicht Brüderles Tat selbst. Es ist die Selbstverständlichkeit, die in den Worten Kubickis und Hahns mitschwingt, die ungeheuerlich ist, und ihre selbstverständliche Bereitschaft, Brüderle dadurch zu decken, dass die Dreck auf die Journalistin werfen. Es ist übrigens auch bezeichnend, dass nur männliche FDP-Mitglieder sich zur Deckung Brüderles aufgestellt haben.

Die dritte Dimension des Skandals ist die offensichtlich herrschende Erwartung, mit diesem sexistischen Dreck durchzukommen. Brüderles Avancen, die - man kann das gar nicht oft genug schreiben - den Tatbestand der sexuellen Belästigung eindeutig erfüllen, wurden ja nur durch seine Pressesprecherin gestoppt, die ihn mit Kommandoton ins Bett schickte, weil Brüderle offensichtlich zu betrunken war, um noch ganz Herr seiner Sinne zu sein. Ein Problem sah darin scheinbar niemand. Er hatte es eben ein klein wenig zu weit getrieben, aber eine echte Gefahr schien für niemanden zu bestehen. Die informelle Atmosphäre scheint alle Anwesenden darin bestärkt zu haben. Dies lässt darauf schließen, dass Vorkommnisse wie dieser eher ein Normalfall denn die Ausnahme sind. Diese Geisteshaltung muss unbedingt verschwinden. Die Zeiten, in denen Bundeskanzler Brandt auf Wahlkampftour reihenweise Journalistinnen abschleppen und mit ihren männlichen Kollegen anschließend darüber scherzen konnte, sind vorbei. Unsere Gesellschaft soll eine emanzipierte sein, und dazu passt es nicht, dass manche ältere Herren sich benehmen, als wären wir in den 1970er Jahren steckengeblieben und als ob die Partizipation von Frauen im öffentlichen Raum ein Scherz sei, den nur einige Eingeweihte verstehen.