Millionen Menschen in Deutschland können sich das allerdings nicht aussuchen. Sie sind gezwungen, um die 25% Ihres Körpergewichts jeden Tag zur Arbeit zu schleppen. Und es sind kleine Menschen, deren Haltungsapparat noch nicht voll ausgebildet ist. Es sind unsere Kinder.
Kinderarbeit in fernen Ländern beklagen wir zurecht. Dass Kinder in Deutschland jedoch täglich mit echten Lasten größere Strecken zurücklegen müssen, ist nicht auf unserem Radar.
Im Bild meine Tochter Verena. Sie ist derzeit 11 Jahre alt und besucht die 6. Klasse eines Gymnasiums in Hamburg. Ihr Ranzen wiegt um die 7,5 kg; ihr Gewicht ist 28 kg. Der Effekt ist deutlich zu sehen: kompensierende Haltung, ja, Fehlhaltung.
Klar, das Gewicht am langen Arm zu tragen, wäre noch schlimmer. Die Empfehlung "Ranzen statt Aktentasche" ist korrekt. Nur sollte das nicht bedeuten, dass jedes Ranzengewicht dann auch gleich akzeptabel ist. Ich finde 7,5 kg oder 25% des Eigengewichts jedenfalls deutlich zuviel.
Später im Gymnasium bin ich mit einem recht dünnen Samsonite Koffer ausgekommen. Den habe ich – gegen alle Empfehlung – am langen Arm getragen. Da waren bestimmt auch keine 7,5 kg drin.
Heute ist das anscheinend anders. Brotdose, Trinkflasche und Hefte gibt es immer noch. Die Zahl der zu schleppenden Bücher scheint sich aber erhöht zu haben. Hier das, was ich an einem Tag in Verenas Ranzen gefunden habe: Mathe, Englisch, Französisch, Geschichte, Erdkunde, Musik.
Manche Bücher können in der Schule gelassen werden, wenn sie nicht für Hausaufgaben benötigt werden. Gute Idee – die natürlich mindestens gelegentlich dazu führt, dass ein Kind ein nötiges Buch vergisst. Und wenn es Bücher zuhause hat, dann vergisst es sicher auch mal eines einzupacken, das am nächsten Tag gebraucht wird. Aber das ist alles nicht so schlimm wie das täglich hohe Gewicht.
7,5 kg kommen vor allem zusammen durch Schulbücher und Notizbücher, die die Lehrer fordern. Nicht Schreibhefte, sondern echte kleine “Schreibbücher” (z.B. für spezielle Ansagen der Klassenlehrer).
Zum Gewicht kommt die Qualität der Bücher. Was trägt denn meine Tochter da. In Hamburg herrscht derzeit Lehrmittelfreiheit, d.h. Schulbücher müssen nicht gekauft werden (oder zumindest nicht alle). D.h. die Kinder “erben” ihre Bücher von Vorgängern. So sehen sie denn auch aus. Hier als Beispiel das Musikbuch:
So viel ist uns also die Bildung unserer Kinder wert?
Aber ich will nicht in ein Lamento über unser Bildungssystem verfallen. Mir geht es hier um etwas anderes. Ich finde die Gewichtsbelastung und auch die schlechte Lehrmittelqualität nämlich gänzlich unnötig. Sie ist anachronistisch, weil es besser geht. Es geht ganz einfach viel besser. Nämlich so:
Das ist das iPad von Verena. Auf ihm sind alle Schulbücher, die sie sonst im Ranzen trägt, als PDFs. Das iPad 1 wiegt damit 0,875 kg!
Das iPad mit allen Büchern der 6. Klasse wiegt nur knapp 10% des Ranzens und also nur knapp 2,5% von Verena. Das, so finde ich, ist ein angemessenes Gewicht für den täglichen Schulweg.
Zugegeben, im iPad ist noch keine Brotdose und keine Trinkflasche enthalten :-) Aber alle Schulbücher und alle Schreibhefte können darin sein. Ohne Gewichtsveränderung kann darin sogar jedes Buch jeder Jahrgangsstufe inkl. aller je gemachten schriftlichen Ausfertigungen gespeichert sein. Rein technisch könnte Verena also mit einem iPad zur Einschulung ausgestattet werden und es bis zum Schulabschluss behalten. In 12 (oder 13) Jahren müsste sie für den Unterricht nicht ein Buch schleppen und nicht ein Heft kaufen. Sie könnte alle Arbeiten mit und im iPad erledigt.
Technisch ist das kein Problem.
Ob das immer didaktisch/pädagogisch wünschenswert ist, ist eine andere Frage. Mit einem Stift das Schreiben auf Papier zu lernen, ist sicher eine Fertigkeit, die Schule auch vermitteln sollte. Allerdings geschieht das heute schon schlecht genug, wie das Gekrakel vieler Schüler beweist. Der Zeigefinger sollte also nicht zu doll wackeln, wenn es ums Schreiben auf einem iPad geht. (Ob mit der virtuellen Tastatur oder einer zusätzlichen geschrieben würde, sei auch nochmal dahingestellt.)
Was in der Schule gelesen wird, was für die Schule geschrieben wird, was für die Schule “collagiert” wird (Hausarbeiten aus Text und Bildern), was notiert wird… das kann genauso gut oder gar noch besser (leichter, in höherer Qualität, mit mehr Lerneffekt fürs restliche Leben) mit einem iPad getan werden.
Ein kleines Problem machen “Workbooks”, also Bücher, in die etwas hineingeschrieben werden soll. Die könnten technisch aber als PDF-Formulare ausgelegt werden. Das ist etwas mehr Aufwand als ein reiner Scan – doch der ist sehr überschaubar, wenn der ein Verlag das einmal tun würde zum Nutzen aller Schüler.
Schulhefte und Notizbücher werden ersetzt durch diverse Apps. An Textverarbeitungen und Notiz-Apps gibt es keinen Mangel. Da kann man organisieren und reinmalen und schreiben, dass es eine Freude ist. Und wenn die Lehrerin Termine ansagt, können die sogar in Kalender eingetragen werden. Ja, die Lehrerin könnte sogar einen Kalender für die Klasse zentral führen. Dann müssten nicht 30 Kinder eine Notiz machen. Den Kalender könnten Eltern dann abonnieren.
Es ist überhaupt nicht auszudenken, wie der Schulalltag sich vereinfachen ließe, wenn denn die Kinder statt mit gewichtigen Papierbergen mit einem iPad (bzw. einem vergleichbaren Device) ausgestattet würden. Ich wage ja gar nicht auszumalen, was da alles möglich wäre in puncto Apps für die Bildung. “Spielend lernen” könnte eine ganz neue Bedeutung bekommen. Physikalische Experimente auf dem iPad, Exploration mathematischer Probleme, ein anderer Zugang zur Chemie, Recherchieren am PC nicht als mühseliger Sonderfall, sondern als Bestandteil des Schulalltags…
Aber ich höre sie schon, die Kritikusse: Dem Plagiat sei damit ja Tür und Tor geöffnet. Und die wichtigen Fertigkeiten im Umgang mit dem Papier, die dann nicht mehr gelernt würden. Sowieso sei damit die Verblödung der Kinder und Jugendlichen durch “den Computer” auch noch staatlich gefördert.
Nein, ich halte weiterhin dagegen: Eine Schulwelt, in der jedes Kind mit einem iPad (bzw. ähnlichem Device) ausgestattet ist, halte ich für wünschenswert.
Handfest dagegen sprechen nicht eventuelle pädagogische Einwände einer zaghaften Lehrerschaft, die sich früher schon gegen Schiefertafeln gewandt hat, als man noch auf Birkenrinde in der Schule geschrieben hat.
Handfeste Einwäde sind für mich derzeit:
- Ein iPad kostet eine ganze Menge. Das kann sich nicht jede Familie für jedes Kind leisten. Es gibt auch günstigere Varianten, aber das kapazitive Display und die Geschwindigkeit sind für mich erstmal Minimalanforderung. Schlechter sollten Schul-Devices nicht ausgestattet sein.
Ich bin allerdings sicher, dass die Zeit hier für die Schüler arbeitet. In Russland ist man augenscheinlich schon weit(sichtig)er.
Auf der anderen Seite: Wenn ein Device für mehrere Jahre gekauft wird, sagen wir mal mindestens für die Zeit nach der Grundschule (also max. 8-9 Jahre), dann wären selbst Kosten von 500 EUR kein Problem. Pro Jahr wären vielleicht 75 EUR fällig (inkl. einer Verlustversicherung). Dafür ließe sich doch eine Finanzierungsform finden, oder? Ein bisschen Kreativität wäre halt gefragt.
Letztlich müsste sich am Preis also gar nicht soviel ändern. Mit einem potenten Hardware-Sponsor und einem potenten Telco-Provider und einer potenten Versicherung wäre da was zu machen. Warum probiert eine Privatschule das nicht einfach einmal aus? Fragen köst nix. - Wenn ein iPad verloren ginge, gestohlen oder beschädigt würde im Schulalltag, dann wären gleich alle Aufzeichnungen und Bücher weg. Dass das einem Ranzen passiert, ist möglich, aber unwahrscheinlich. Ein iPad hingegen ist empfindlicher und attraktiver für Diebe.
Es müssten Vorkehrungen verschiedener Art getroffen werden, um einem Verlust entgegen zu wirken und ihn im Notfall zu kompensieren. Daten können über die Cloud gesichert werden. Der Zugang kann personalisiert werden. Klassenräume könnten abgeschlossen werden in der Pause. Und Devices könnten versichert werden. Man sollte eh darüber nachdenken, ob die Devices nicht “im Abo” gekauft werden, so dass sie nach vielleicht 3 Jahren ohnehin ausgetauscht würden. Schulbücher müssten digitalisiert werden. Das kann jeder für sich machen, wie ich es getan habe. Aber eigentlich ist das natürlich Aufgabe der Verlage. Die tragen natürlich starke Bedenken, was ihre Umsätze angeht. Doch das wäre eigentlich kein Problem. Schulen kaufen heute Buchkontingente, das können sie auch morgen tun.
Wie gesagt, im ersten Schritt müssten die Bücher nicht mal aufgepeppt werden. Ein Scan reicht in den meisten Fällen aus.
Und danach kann jeder Verlag schrittweise seine Bücher in Apps oder anderes umwandeln (die die Kinder (bzw. ihre Eltern) kaufen). Da würde sich sogar ein Markt für weitere Titel auftun: das Schulbuch muss gekauft werden, doch zum Schulbuch gibt es dann vom Verlag noch Nachhilfe-Apps. Ha! Was für ein Geschäft!- Verena könnte heute womöglich schon ihr iPad in die Schule mitnehmen. Da ist ja alles, was sie braucht, drauf. Die Lehrer würden die Stirn runzeln, zucken, doch am Ende es akzeptieren, denke ich. Gefragt habe ich allerdings nicht, weil Verena nicht will. Es wäre ihr unangenehm, als einzige mit einem solchen Device im Unterricht zu sitzen. Da schleppt sie lieber 7,5 kg, als sich so als Außenseiter zu zeigen.
Das bedeutet, Devices müssen in einer Weise eingeführt werden, die “peerkompatibel” ist. Kindern dürfen sich dadurch nicht ausgegrenzt fühlen. Es ginge also nur klassenweise.
Soweit die Hürden, die ich sehe. Es sind keine didaktischen, keine pädagogischen, sondern eher organisatorische.
Keine scheint mir aber unüberwindlich. Im Gegenteil. Wenn auch nur eine Schule das Ergebnis für wünschenswert hielte, könnte sie aus dem Stand ein Experiment aufsetzen. Warum nicht eine Klasse in einem höheren Jahrgang (z.B. 10. Klasse) mit Devices ausstatten und schauen, was passiert?
Sponsoren für Hardware, 3G und Versicherung ließen sich ganz bestimmt finden. Die Kosten wären dann kein Problem.Schulverlage würden es sicher auch mitmachen.
Die größte Herausforderung wäre wahrscheinlich, die Lehrerschaft zu überzeugen. Die kann selbst nicht verlässlich mit Devices umgehen. Die kann schon gar nicht verlässlich verstehen, was ihre Schüler mit Devices heute schon daheim alles tun. Die Barriere ist mithin in den Köpfen.
Deshalb scheint mir eine Privatschule der vielversprechendste Keim für eine solche Entwicklung. Dort ist man mehr als anderswo darauf angewiesen, sich zu entwickeln.
Also: Wo ist die innovative Schule, die unsere Kinder erleichtert? 0,875 kg sind machbar. Kein Kind muss 25% seines Körpergewichts an Material zur Schule schleppen.
Wenn uns unsere Kinder wirklich wichtig sind, dann bemühen wir uns, sie mit dem Besten auszustatten, was unsere Gesellschaft hervorgebracht hat. Und das sind nicht nur Goethe, Einstein, klimatisierte Busse für Klassenreisen und hübsche Tafelbilder. Machbar ist viel mehr. Machbar ist auch mehr als Smartboard-Schulen heute tun. Wir müssen es nur wollen.
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