Dieter Hufschmidt "Mein Kopf ist ein zwitscherndes Vogelnest" in Hannover auf der Cumberlandschen Bühne, Schauspielhaus

Das war ein beglückender Theaterabend am 2. Juni in Hannover - wer gerne gutes Theater der traditionellen Art mit bester Sprechkultur erleben möchte, dem sei dieses Solostück des 78-jährigen Dieter Hufschmidt empfohlen; ich hoffe, es kann in der kommenden Saison wieder aufgenommen werden. "Eine biografische Erinnerungsreise" nennt Dieter Hufschmidt den Abend im Untertitel; zweieinhalb Jahre hat er ihn vorbereitet - das war "Erinnerungsbewegung", sagt er, als -arbeit möchte er es nicht bezeichnen. Die Erinnerungen seien ja an ihn herangetreten, seien erstmal alle angenommen worden, und er habe dann wie ein Assistent dieser Erinnerung Texte herausgesucht - nicht aus dem Bücherschrank, aus dem Gedächtnis. Manchmal verändert sich etwas, sagt er, kein Abend ist genau wie der andere.

Schön ist, dass er uns: die Zuschauerin, den Zuschauer, in den Zwischentexten an dem Prozess der Erinnerungsbewegung hier und da teilhaben lässt; vieles war in der Tiefe versunken, und einmal hat er seinen Bruder gefragt: war denn die Geschichte wirklich so? sie war so oder ähnlich. Deutlich wurde ihm, die Biografie eines Menschen ist nicht nur eine Geschichte, sie ist aus vielen Geschichten zusammengesetzt, die nicht nur in Worten existieren, auch in Klang, Gerüchen, Geschmäckern, Tasterlebnissen, Bildern sowieso.

Der Abend beginnt mit fremdartigen Klängen. Stephan Froleyks (Komponist und Professor an der Musikhochschule) erzeugt sie auf seinen Apparaturen, die auf der Bühne unübersehbar sind, mit einer Tuba verbundene Schalltrichter etwa. (Der Schauspieler liegt da schon bäuchlings auf dem Boden bereit.)

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Sehr berührt hat mich, dass Dieter Hufschmidt ganz respektvoll mit seinen Eltern beginnt. Seine Mutter vor allem war es, die ihm sein Interesse und Gefühl für Sprache geschenkt hat; ohne akademische Ausbildung hat sie Sprache und Literatur der verschiedensten Art geliebt; auch den Dialekt von Mülheim an der Ruhr, wo Dieter Hufschmidt als einer von sieben Brüdern geboren wurde. Ihre Kinder hat sie jedoch immer dazu angehalten, Hochdeutsch zu sprechen, das war ihr wichtig. Der Vater spielte auch eine Rolle, denn er hatte eine witzige Art, Verse zu sprechen und zu verdrehen - und der lebenslange Freund des Vaters, einbeinig (bei einer mutigen Rettungsaktion eines Verwundeten im Ersten Weltkrieg selber verletzt), dessen Söhne zu Stotterern wurden (einer davon wurde später Pfarrer!). Mit sieben Jahren, bis zum 10. Lebensjahr aber wurde Dieter Hufschmidt von seiner Familie getrennt, er kam durch die Kinderlandverschickung in eine schwäbische Umgebung, in die er sich (sprachlich) erstaunlich schnell einfügte. Von dem Pflegevater hat er indirekt etwas gelernt: nämlich, was eine Metapher ist (der hatte ihm auf Schwäbisch die Nonsenseverse "Dunkel war's, der Mond schien helle ..." usw. vorgetragen, aber der Junge verstand zunächst den Witz gar nicht; erst später ging ihm ein Licht auf, dass es Bedeutungen hinter den Bedeutungen gibt, Wörter und Worte mit Doppelsinn).

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So könnte ich noch viel plaudern nach diesem Solo-Theaterabend, erzählen, was mir in Erinnerung geblieben ist. Erinnerung ist nichts Festgenageltes für Hufschmidt, er erinnere sich nicht an ein Geschehen, das 1945 stattgefunden hat, sondern an ein Geschehen, über das er z.B. 1950 oder 1976 gesprochen hat "und damit verändert es sich und mich, und ich verändere es auch". Mir als Zuhörer und Zuschauer sind zwei Figuren am meisten in Erinnerung geblieben: der stotternde Prediger und der "Kommaneurotiker" (ein Mensch, der
in Texten mehr als genug Kommata setzte). An den letzteren knüpft er mit Heinrich von Kleist an, der ein genialer Meister der Zeichensetzung war. Dieter Hufschmidt liest dessen "Anekdote aus dem letzten Preußischen Kriege" in der Weise vor, dass er immer das Wort Komma mit ausspricht, also "In einem bei Jena liegenden Dorf Komma erzählte mir Komma auf einer Reise nach Frankfurt Komma der Gastwirt Komma ... So einen Kerl Komma sprach der Wirt Komma habe ich zeit meines Lebens nicht gesehen."

Und dann sind mir noch in Erinnerung die Texte von Heinrich Heine, Paul Celan, Kurt Schwitters und - sehr beeindruckend - Bertolt Brecht, ein Auszug aus dem "Kinderkreuzzug". Über Paul Celan erzählt Hufschmidt, dass der sehr unter Adornos Diktum gelitten habe, nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, sei barbarisch - schließlich schrieb Celan trotzdem Gedichte. Celan hat, so Hufschmidt, mit einer seiner wenigen Posaarbeiten (der einzigen?) direkt darauf reagiert: "Gespräch im Gebirg"; diesen nicht einfachen Prosatext bringt Dieter Hufschmidt ebenfalls zu Gehör. Mir war der Zusammenhang ganz neu, da habe ich wirklich etwas gelernt an dem Theaterabend - und, tatsächlich, ich habe den Text in meinen Bücherregalen gefunden, in der schön gestalteten Auswahlausgabe der Büchergilde Gutenberg von 1996 "Die rückwärts gesprochenen Namen". Sie merken: Ich habe mich anstecken lassen und Erinnerungsbewegung betrieben.

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Oft gibt es die stillen und ruhigen Momente an diesem Abend - wie aber passt die Musik, die Klangdarbietung von Stephan Froleyks dazu? Gar nicht, meint die HAZ (Roland Meyer-Arlt); der Schauspieler brauche eigentlich kein Getöse. Das kann mensch so sehen - andererseits, finde ich, passt es zu der Auswahl der Texte, die Dieter Hufschmidt - der sich selber als konservativ bezeichnet - getroffen hat, die nun gar nicht auf der konservativen Hauptlinie sind (Heine! Brecht!).

Dieter Hufschmidt lebt schon lange in Hannover - seit 1969 gehört er zum Schauspiel Hannover. Liebenswert gemacht aber hat ihm die Stadt Kurt Schwitters, so sagt er - durch seinen Text über das rückwärts gelesene Hannover "re von nah".Schwitters übersetzt das mit "rückwärts von nah" und schließt daraus, dass Hannover wieder nach vorne gedreht so viel bedeutet wie "vorwärts nach weit" - Hannover strebe also vorwärts, und zwar ins Unermessliche. Welcher Stadtname sonst kann so schön rückwärts gelesen werden und dadurch so viel Hintersinn bekommen?

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Großer Applaus am Schluss, als Zugabe gibt es Wilhelm Busch.

Für den Fall, dass dieses Solostück in der neuen Saison wieder aufgenommen wird, empfehle ich sehr den Besuch.

Text und Fotos: Dr. Helge Mücke. Ein paar Informationen und das Zitat wurden einem Interview von Gesa Lolling in "Theaterzeit" Heft 11, 2012, entnommen.


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