Diesseits von Gut und Böse

Den Atheisten ist überhaupt nichts heilig! An diesem Vorurteil ist etwas Wahres – und trotzdem alles falsch. Eine Verteidigung der Gottlosen gegen ihre unermüdlichen Gegner.

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Woran diejenigen glauben, die keinen Gott haben, interessiert noch aus weiteren Gründen. Immerhin dürfte es sich um ein Drittel der deutschen Erwachsenen handeln, und da wäre es einigermaßen beunruhigend, wenn sie einem riskanten Ersatzglauben anhingen. Etwa dem, dass die Nation, der Staat, die Wissenschaft oder eine Endzeitutopie dem Dasein seinen Sinn verliehen.

Die Frage nach dem Glauben der Gottlosen ist auch deswegen wichtig, weil sie das Verhältnis zwischen Religiösen und Nichtreligiösen betrifft. Allein schon um des lieben Friedens willen muss der Graben zwischen beiden Gruppen ausgelotet werden.

Gläubige und Ungläubige sind füreinander bis heute ein provozierendes Rätsel. Wohl nicht zuletzt deswegen wird dem Atheisten oft vorgehalten, auch er habe einen Glauben: daran eben, dass es Gott nicht gibt. Weil sich aber weder Existenz noch Nichtexistenz Gottes beweisen lasse, stünde es gewissermaßen null zu null, und der Rest sei halt »Glaubenssache« – ein achselzuckender Ausdruck, der gleichbedeutend mit Willkür geworden ist.

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Die meisten Ungläubigen von heute indes sehen keine Notwendigkeit darin, ihre Umwelt mit gottlosen Auffassungen zu behelligen. Im Westen jedenfalls ist die Haltung des französischen Schriftstellers Michel Houellebecq verbreitet, der von sich schreibt, sein Atheismus sei weder engagiert noch antiklerikal, noch gar heroisch oder befreiend, sondern einfach »kalt«.

Die Mehrzahl der Atheisten ist nicht sonderlich am Für und Wider der Existenz Gottes interessiert. Gläubige mögen dieses Verhalten borniert finden. [...] Der Atheist hat aber normalerweise auch kein Interesse daran, anderen Leuten ihre Religion madig zu machen.

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Verbreitet ist der Vorwurf, wer keinen Gottesglauben habe, dem fehle auch Moral. Daran ist etwas Wahres. Denn der konsequente Atheist kennt nichts von vornherein Fragloses.

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Leider ist auch die Philosophie nicht weit gekommen mit ihren Versuchen einer weltlichen Begründung der Ethik. Dem Atheisten bleibt ein schwieriges Konstruktionsproblem aufgegeben. Nicht, dass er moralisch entsichert herumliefe, doch die Sicherung muss er sich selbst zusammenbasteln, ohne Bedienungsanleitung.

Und war nicht gerade das 20. Jahrhundert deswegen so grausam, weil zwei atheistische Ideologien ihr Unwesen trieben, der Nationalsozialismus und der Marxismus-Leninismus? Durchaus. Nur, dass die Verbrechen der Nazis und der Stalinisten nicht im Namen des Atheismus begangen wurden, sondern im Namen der Rasse oder der Klasse. Beide atheistischen Überzeugungssysteme wurden mit Recht als säkulare Religionen bezeichnet, sie handelten vom vorbestimmten Endkampf ums neue Reich und forderten von ihren Anhängern die Bereitschaft zu allerfrommstem Exterminismus.

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Marxisten müssen Atheisten sein, umgekehrt gilt das nicht.

 


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