Es ist völlig unerheblich, ob die Rettung Griechenlands gelingt oder nicht. So oder so, Griechenland ist für Europa verloren. Nachzügeln werden Portugal, Spanien und Italien. Auch sie werden für den europäischen Gedanken, ein Zusammenleben in Frieden und Harmonie, verloren sein. Und vergleicht man die Situation dieser Länder mit dem Deutschen Reich nach dem großen Krieg von 1914 bis 1918, so kann man immer weniger ausschließen, dass in jenen Ländern Gruppierungen oder Parteien auferstehen, die in eine totalitäre Gesellschaft lotsen. Das Verständnis der Deutschen vor knapp einen Jahrhundert war, von totalitären Regimes in die Mangel genommen zu werden - der Totalitarismus der Siegermächte war der fruchtbare Boden für den Totalitarismus, der in Deutschland erwachte. Warum sollte das heute andere Resultate zeitigen?
Welches Grundvertrauen in Europa sollten die Griechen denn noch haben? Die griechische Oberschicht kann freilich weiterhin vertrauen - dicke Säckel beruhigen gemeinhin. Aber was machen all jene, die auf Geheiß der EU in Armut oder gar Hunger bugsiert wurden? Selbst wenn Griechenland gerettet wird... was immer das heißen soll. Man weiß ja immer weniger, was Rettung sein soll, was wem nützt, wer wem schadet. Selbst wenn Griechenland gerettet wird, was soll der griechische Rentner denken, der kaum satt wird? Was der hellenische Arbeitslose? Konjunktur hat in Griechenland nur die Arbeitslosigkeit; das Geschäft mit der Ungeschäftigkeit boomt. Wie kann man erwarten, dass diese "Boomer" der Krise jemals wieder europäisch denken oder fühlen werden, ja überhaupt wollen?
Politik ist heute ökonomischer Sachzwang - Politik ist versachzwangt worden. Und alles, wirklich alles dreht sich um Geld. Um nichts sonst! Die Politik, die so tut, als habe sie das Primat, ist nichts weiter als die verlängerte Greifzange der Wirtschaft, die das Primat hartnäckig an sich gekrallt hat. Wie kann die europäische Politik aber so bedenkenlos den europäischen Konsens umgehen? Ist es nicht auch politische Aufgabe, ja historischer Auftrag geradezu, bei aller sorgenvollen Krisenbewältigung, die Grundpfeiler der europäischen Idee zu schützen und zu stützen? Müsste sie nicht ernsthaftes Interesse daran zeigen, alle Völker Europas immer und immer wieder positiv für das Projekt zu stimmen? Harmonie und Zusammenhalt als Basis auch dann bewahren, wenn wirtschaftliche Souffleure etwas flüstern, was dem schaden könnte? Ist die Verwaltung und Interessensvertretung, was ja Politik ist, nicht auch den immateriellen Leitbildern verpflichtet und nicht nur der schnöden wirtschaftlichen Einträglichkeit? Lohnt es sich, für eine Handvoll Moneten Errungenschaften wie die Demokratie zu kippen?
Was soll das Theater eigentlich noch? Die Griechen werden ohnehin der europäischen Idee nichts mehr abgewinnen können, für sie ist die Mitgliedschaft in der EU zum Einfalltor für die Diktatur geworden. Andere EU-Mitglieder fordern keck die Entmachtung der griechischen Regierung - Krisenzeiten rechtfertigen scheinbar jede Frechheit. Wann marschieren EU-Truppen in Athen ein? Sperrt man entmachtete Regierungsmitglieder ein, die sich der neuen Besatzungsmacht nicht beugen wollen? Werden Mitglieder der sich formierenden Exilregierung standrechtlich... man will es gar nicht aussprechen! Und das hungernde Volk, das keinerlei Zukunftsperspektiven mehr, das desillusionierte Jugendliche in seinen Reihen hat, und von den Wertschöpfungen eines reichen Europas ausgeschlossene Kinder? Wie zimperlich darf eine Besatzungsmacht sein, die sich halten will, die was auf sich hält? Schießt sie? Droht sie nur? Wieder deutsche Soldaten in Griechenland? Was macht man mit Greisen, die schier durchdrehen, weil sie die Bundeswehr mit der Wehrmacht verwechseln? Die an früher denken, als schon mal Deutsch in Griechenland gesprochen wurde? Nennt man das psychische Störung, Trauma oder südländischen Hang zur Tragödienhaftigkeit?
Das sind Übertreibungen. Noch plant niemand einzumarschieren. Noch! Wer hat denn vor zwei oder drei Jahren, bei aller repressiven Politik der EU, die es damals schon gab, geglaubt, ein Mitgliedsland, das sich selbst als Demokratie schimpft, würde einen Gauleiter ins Gespräch bringen, der dem griechischen Volk vor die Nase gesetzt würde? Wer hätte nicht gedacht, dass ein solcher in den Raum geworfener Gedanke ein Raunen zur Folge hätte, die Vertreibung desjenigen, der dies vorschlägt, aus Amt und Mandat? Wer hätte vor einigen Jahrzehnten denn gedacht, dass Europa, ausgerechnet dieses kriegsgebeutelte Europa, in dem die Erfindung des Asylgedankens zwangsläufig war, eine Asylpolitik betreiben würde, die auf die Bedürfnisse und Ängste des Flüchtlings überhaupt keine Rücksicht mehr nimmt? Wer hätte das gedacht? Und trotzdem ist es so gekommen. Wie selbstverständlich ist es so gekommen - und wie selbstverständlich nahm man es hin - und wie selbstverständlich denken mir hin und wieder, es sei niemals anders gewesen.
Selbst wenn man die griechische, später die spanische und portugiesische und italienische Regierung nicht entmündigt, selbst wenn man diesen Völkern keine Spardespoten vorsetzt, dürfte der Zuspruch zu einem Europa, das sich solche Szenarien auch nur vorstellen kann, so gut wie geschwunden sein. Wer will einem Staatenbund angehören, in dem die nationale Immunität keinen Pfifferling wert ist - und das genau dann, wenn Zusammenhalt dringend notwendig wäre. Finanzielle Hilfe ist eine Sache - den Esprit der Veranstaltung zu bewahren, koste es was es wolle, wäre mindestens genauso wichtig. Oder noch wichtiger! Wie soll man Menschen weiterhin für Europa begeistern, die ins Auge der Tyrannei blickten? Die erwarten mussten, von Europa in eine Mangel- und Hungerdiktatur gezwungen zu werden? Mangel bekommen sie auch ohne Gauleitung erteilt - zynisch könnte man nun entkräften: das geschieht wenigstens mit Mandat! Aber dann auch noch demütigen und ohne Mandat verknappen, beschneiden, vorenthalten, hungern lassen? Wer will denn ein solches Europa? Wer will ein Europa, das teilnahmslos zusieht oder gar Armut anfacht, wo Anteilnahme und Solidarität gefragt wäre? Eine solche EU hat keine Berechtigung mehr...
Die EU unter hartnäckiger Anleitung Deutschlands und Frankreichs, ist zur seelenlosen Veranstaltung geworden. Welche europäische Vision man hegte, war schon vormals bekannt, als man den EU-Vertrag rücksichtslos durchpaukte - eine Verfassung, die nicht so heißt, die auch keine ist, sondern eine in Gesetz gepackte Wirtschafts- und Militärunion. Eigentlich folgerichtig, wenn nun auch der militärische Aspekt ausgetestet würde in Athen, oder etwa nicht? Aber welche Ideale vertritt diese Europäische Union, die einst antrat, das Leben in Europa zu vereinfachen und zu befrieden? Nie wieder Krieg!, hoffte man, rief man auch zuversichtlich. Europa sollte aus gleichberechtigten Partnern bestehen. Und jetzt würde man einen Partner entmündigen, wenn nur alle Mitgliedsstaaten mitzögen - und solche Gedankengänge spricht man aus, ohne auch nur zu erröten. Und der Krieg? Wie schafft man Frieden, wenn man eben diesen mit Knobelbechern tritt? Was ist von der Idee noch übrig? Und wer kann sich für diese entleerte und substanzlos gewordene Idee noch begeistern?
Die Griechen sind als europäisches Volk unter europäischen Völkern verloren. So oder so, ob Rettung oder nicht, die EU kann nicht mehr besonders attraktiv wirken. Sie zeigt sich als repressiver Verein, als eine Wertegemeinschaft ohne Werte - ohne ideele Werte, pekuniäre Werte hingegen hält man ausreichend aufrecht. "Das Recht der Menschen muß heilig gehalten werden, der herrschenden Gewalt mag es auch noch so große Aufopferung kosten", schrieb Kant in Zum ewigen Frieden. Mag es noch so große Aufopferung kosten: ein Stoizismus, der eindeutig macht, dass zwar Krise herrsche, dass es allerdings trotzdem allgemeine Menschenrechte, dass es einen Anspruch auf Demokratie gibt - das wären Ideale, die die EU benötigte! Fiat justitia et pereat mundus - und geht die Welt dabei unter: es bleibt Recht, es bleibt Demokratie, es bleibt Volkssouveränität! Aber das ist mit dieser EU der Krämer und Händler nicht zu machen!