Diese Art von Verbrechen gibt es in dieser Gesellschaft nicht

Derzeit lese ich Kind 44 von Tom Rob Smith. Dabei handelt es sich um einen Kriminalroman, der von einem ähnlichen Fall inspiriert wurde, der in den 80er Jahren in der UdSSR tatsächlich statt gefunden hat. Dem echten Serienkiller Andrei Romanowitsch Tschikatilo konnten, nachdem er schließlich doch verfasst wurde, 53 Morde nachgewiesen werden, vermutlich hat er aber noch mehr Menschen umgebracht. Dass er überhaupt die Gelegenheit hatte, mehr als 12 Jahre lang zu morden, lag nicht an seiner Genialität, denn er ging weder besonders subtil vor, noch gar er sich große Mühe, seine Verbrechen zu verbergen. Er profitierte vielmehr von dem Umstand, dass man in der Sowjetunion daran glauben wollte, dass es dermaßen schreckliche Verbrechen in einer sozialistischen Gesellschaft gar nicht geben könne. Wenn man nicht an einen Serienkiller glauben will, dann findet man auch keinen – die Ermittlungsbehörden hatten jahrelang vor sich hin versagt, bis der Massenmörder eher zufällig entdeckt wurde.

Der britische Autor Tom Rob Smith hat diese Geschichte in die Stalin-Ära verlegt, wo es noch viel gefährlicher war, von der Staatsdoktrin abweichende Gedanken zu äußern und heraus gekommen ist eine wirklich beklemmende Geschichte über den Versuch, im Falschen das Richtige zu tun, was immer wieder schief geht und zu immer neuen Opfern führt. Der Geheimdienst-Offizier Leo Demidow löst mit seinen unerwünschten und zunehmend heimlich geführten Ermittlungen immer wieder ungeahnte Katastrophen aus, die dazu führen, dass Dutzende Unschuldiger im Lager landen oder hingerichtet werden, dabei wollte er doch nur eine Serie rätselhafter Kindermorde aufklären.

Und das Erschreckendste daran ist, dass man weder ein Schreckensregime noch eine idiotische Doktrin braucht, um ein solches Dilemma zu reproduzieren: Wenn man die Berichte über die NSU-Morde und die nicht erfolgte Aufklärung derselben liest, wird klar, dass die Mörder von der NSU nur deshalb so lange morden konnten, weil man gar nicht nach ihnen gesucht hat. Wobei ja schon mit erheblichem Aufwand ermittelt wurde – aber kein Mensch will auf die Idee gekommen sein, dass, wenn insgesamt neun Mitbürger ausländischer Herkunft unter rätselhaften Umständen erschossen werden, der oder die Täter aus dem rechten Milieu stammen könnten.

Das erinnert doch sehr an das oben gezeichnete Denkmuster: “So was kann es bei uns gar nicht geben!” Mordende Nazis sind in Deutschland schließlich undenkbar. Also gibt es sie auch gar nicht. Und hätten sich mutmaßlichen Rechtsterroristen Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt im November 2011 nicht selbst umgebracht, würden die Ermittler vielleicht noch immer rätseln, wie das alles zusammen hängt. Und vieles ist im Zusammenhang mit der NSU-Mordserie noch immer rätselhaft – etwa der Mord an der Heilbronner Polizistin Michèle Kiesewetter . Hier scheint die Staatsanwaltschaft nicht an einer Aufklärung interessiert zu sein. Man fragt sich zu recht, warum. Einen aufschlussreichen Hintergrundartikel dazu gibt es heute in der jungen Welt.



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