JAM PAL LA CHAG TSHAL LO //
Verehrung dem Manjushri!
Sicht der Ichlosigkeit
Das Subjekt, welches der Geist ist, das denkt „ich bin“, ist daher das Festhalten an einem Selbst. Und sein täuschendes Objekt, ist das, was wir „Selbst“ nennen. Genauso wie wir ein Stück buntes Seil mit einer Schlange verwechseln, projizieren wir die Vorstellung von einem Selbst auf die Erlebnishaufen, während das Selbst in Wirklichkeit keine wahre Bestehensweise hat. Das zu verstehen, ist die Sicht der Ichlosigkeit.
Ichlosigkeit der Phänomene
Alle bedingten und unbedingten Dinge außer dem „Ich“ oder dem Selbst sind „Phänomene“. So lange wir unsere naiven Annahmen keiner Prüfung unterziehen, glauben wir, dass diese Phänomene existieren. Sobald wir diese jedoch durch logische Begründung prüfen, wie mit dem Argument von „weder eines noch viele“, gelangen wir zu einem Verständnis, dass keine Entität, egal ob grob oder subtil, als „wahrhaft“ bezeichnet werden kann. Und dieses Verständnis darüber wie es den Dingen an jeglicher Basis oder jeglichem Ursprung mangelt, ist das, was wir die Realisation der „Ichlosigkeit“ der Phänomene nennen.
Objekte der Verneinung
Das Selbst der Person und das Selbst der Phänomene sind daher Gegenstände der Verneinung, Personen oder Phänomene sind wie Vasen usw. ohne wahrhafte, inhärente Existenz. Obwohl wir diese zwei Arten eines Selbst als Ergebnis unserer geistigen Täuschung wahrnehmen, entdecken wir, wenn wir sie untersuchen, dass es ihnen am geringsten Hinweis auf Wahrhaftigkeit mangelt und dieses Fehlen ist die Ichlosigkeit der Person und der Phänomene. Man sagt, dass der Geist, der dieses Fehlen eines Ichs auf diese Weise versteht, die Ichlosigkeit realisiert.
Entsprechend der zwei Arten von Subjekt bzw. dem Festhalten an einem Selbst, gibt es somit zwei Formen eines wahrgenommenen Selbst. Um beide Formen des Festhaltens an einem Selbst auszureißen, ist es notwendig zu einer Gewissheit durch logisches Denken zu gelangen, indem man überlegt, wie es diesen beiden Arten von Objekten oder Gattungen eines Selbst an wahrer Existenz mangelt und dadurch entsteht im Geist die Erkenntnis der Ichlosigkeit als das Subjekt, das die zweifache Ichlosigkeit wahrnimmt.
Verfeinern der Sicht
Kurz gesagt ist das Festhalten an „Ich“ die Quelle aller Störgefühle, die die Wurzel des Daseinskreislaufs sind. Sein Gegenmittel ist das Erkennen der persönlichen Ichlosigkeit, die wie die Wurzel für den Pfad der Befreiung ist. Die vollständige Sicht der Leerheit, durch welche wir verstehen, wie es allen Phänomenen an wahrhafter Bestehensweise mangelt, besiegt die geistigen Schleier zur Gänze. Und dies ist somit die Wurzel für den Pfad des Mahayana. Bis wir zu einer tiefen und stabilen Gewissheit über die große Gleichheit gelangen, die unaussprechliche, letztendliche Sphäre, in der Leerheit und bedingtes Entstehen untrennbar sind, müssen wir unsere Sicht verfeinern.
Yogacara-Sicht
Bloßes verstandesmäßiges Verstehen, das auf einer ungeeigneten Negation basiert, wie z.B. ein Objekt der Verneinung zurückweisen, dann ist das die letztendliche Realität, das „kategorisierbare Letztendliche“, die aber nur ein Tor zur letztendlichen Realität darstellt, aber nicht die letztendliche Natur selbst ist.
Madhyamaka-Sicht
Der Mittlere Weg der unbeschränkten Einheit oder das „unkategorisierbare Letztendliche“ ist der natürliche Zustand der Untrennbarkeit der zwei Wahrheiten, was durch das selbsterkennende Gewahrsein verstanden wird und durch das Befrieden der gewebeartigen begrifflichen Ausschmückungen gekennzeichnet ist.
Gewissheit und Erfahrung
Kurz gesagt bringt das begriffliche Verstehen, das aus der Analyse geboren ist, echte Gewissheit und ein eindeutiges Verständnis darüber, dass alle Phänomene in Samsara und Nirvana erscheinen, während es ihnen selbst an jedem kleinsten Teilchen wahrhafter Bestehensweise fehlt, was klar wird, wenn wir der Untersuchung und Analyse unterziehen. Darüber hinaus besteht kein Widerspruch zwischen den Erscheinungen all dieser Entitäten und ihrem Mangel an wahrhafter Bestehensweise, so wie in den Beispielen von der Spiegelung des Mondes im Wasser, einem Traum oder einer Illusion dargestellt wird. Überzeugung auf dieser Stufe ist gleich mit der Gewissheit hinsichtlich der Illusionsgleichheit, die während der Zeit nach der Meditationssitzung erfahren wird. Obwohl sie ein positives intellektuelles Verständnis des Madhyamaka darstellt, eignet sie sich jedoch nicht die wahre Natur der Wirklichkeit – den Mittleren Weg jenseits von begrifflichen Ausschmückungen – zu erblicken, welche durch das selbsterkennende Gewahrsein verstanden werden muss.
Wir müssen uns daher um eine besondere Form der Gewissheit bemühen, innerhalb der raumgleichen Freiheit von begrifflichen Ausschmückungen, die das Ergebnis des direkten Sehens des wahren Zustandes der unausdrückbaren Einheit ist. Dann müssen wir die meditative Gelassenheit praktizieren, in der alle philosophischen Standpunkte basierend auf Gedanken des Zurückweisens oder Beweisens gänzlich verschwunden sind. Man sagt, dass dies den Punkt markiert, an dem analytische Sicht durch Studium und Nachdenken entwickelt, vervollkommnet wurde. Dennoch kann die letztendliche Sphäre der Wirklichkeit, die ein Gegenstand des selbsterkennenden Gewahrseins ist, nur durch die vollständige Transzendenz der gewöhnlichen geistigen Vorgänge erblickt werden und nicht durch irgendeine äußerlich gelenkte, auf Sprache basierende Analyse, die den entscheidenden Punkt verfehlt.
Ferner ist es für jene leicht, die darin bewandert sind, die mentalen Ereignisse aufgrund der Herzensunterweisungen ihres Lehrers ruhen zu lassen, Gewissheit zu entwickeln. Daher müssen wir die Schlüsselpunkte des Pfades ohne Fehler verstehen.
Aus den gesammelten Werken von Mipham Rinpoche; Band 32, Seite 323 – 326.
Übersetzt in die deutsche Sprache vom Ngak’chang Rangdrol Dorje (Enrico Kosmus, 2017) unter Zuhilfenahme bestehender Übersetzungen zum Wohle der Wesen. Möge es von Nutzen sein!
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