Für seinen Vortrag an der Uni Mainz, am 20.10.2011 hatte Bruno Latour "bad news" im Gepäck: Der Mensch ist tatsächlich ein materielles Wesen mit körperlichen Bedürfnissen in einer begrenzten Umwelt. Latour entzaubert damit nicht nur den in den Sozialwissenschaften vorherrschenden, immateriellen Blick auf das Forschungsobjekt "Homo Sapiens", er reißt uns auch aus dem schönen Traum, mit stetiger Weiterentwicklung der Technologien irgendwann von der immer gefährlicher werdenden Erde entfliehen zu können. Er möchte zurückfinden zu einem Materialismus, der die faktische Begrenztheit des Kosmos berücksichtigt. Vielleicht eine Voraussetzung, für einen rationalen Umgang mit der Erkenntnis des anthropogenen Klimawandels?
Ein "materialistic shift" im Anthropozän
Der französische Philosoph, Soziologe und Ethnologe, Bruno Latour, stellt die Frage: "Is it Possible to Get Our Materialism Back?" und postuliert damit die Zuwendung der Sozialwissenschaften zum Menschen als materielles Wesen mit materiellem Einfluss.
Genau gesagt, nennt er die Menschheit eine "geological force". Dieses Bild entnimmt er den Geowissenschaftlern, die das jüngste - das gegenwärtige - Zeitalter als "Anthropozän" bezeichnen (vgl. Crutzen 2002), also das Zeitalter, in dem die Gestalt der Erdoberfäche und der Atmosphäre erstmals signifikant durch die Spezies, die sich Homo Sapiens nennt, mitgeprägt wird, nicht mehr ausschließlich durch die endogenen und exogenen Prozesse, welche die Geomorphologie beschreibt. "Natürlich hat ein Vulkan Einfluss", sagt Latour (sinngemäß), "aber er bricht nur ein paar Tage lang aus - die Menschen sind kleine Vulkane, die 24 Stunden am Tag und 365 Tage im Jahr am Dampfen sind."
Ein faktisch begrenzter Kosmos
Ein "materialistic shift" bedeutet auch, eine andere Auffassung vom Universum bzw. vom Kosmos anzunehmen. Angetrieben durch die Idee vom technologischen Fortschritt, träumte die Menschheit bisher von der Eroberung des Weltraums. In einem endlosen Universum musste es auch Lebensraum für den Menschen geben, ob auf dem Mond, dem Mars oder einem entlegeneren Planeten. Wahrscheinlich ist das "Paradies" tatsächlich irgendwo da draußen.
Aber sehen wir der Realität ins Auge - und hierin besteht der "shift": In der Praxis werden wir einen solchen Planeten erstens wohl kaum erreichen und zweitens ist unsere Erde wohl auch mit globaler Erwärmung, mit leergefischten Meeren oder sogar nach einem Atomkrieg immer noch lebenswerter als eine Siedlung auf dem Mond oder dem Mars. Mag das Universum auch unbegrenzt sein, unsere Möglichkeiten sind es nicht. Faktisch sind wir auf das System Erde angewiesen.
"Gaia" oder das System Erde
Latour greift hier auf die Gaia-Theorie von James Lovelock zurück, die besagt, dass die Erde ein System mit interdependenten Faktoren ist, das sich selbst reguliert; ein System, dessen chemische Zusammensetzung und Temperatur sich in einem quasi-stabilen Zustand befindet und so die optimalen Bedingungen für das Leben auf der Erde erhält. Auch Geograph_innen beschäftigen sich im Rahmen der Erdsystemforschung mit den verschiedenen Wechselwirkungen zwischen den verschiedenen Teilbereichen dieses Systems. Nach Mauser (2007: 970) "befindet sich die Erde ohne den Einfluss des Menschen als geschlossenes System in einem dynamischen, natürlichen Gleichgewichtszustand" (vgl. Abb. 1). "Ohne den Einfluss des Menschen" schreibt Mauser! Tatsächlich, und das bezeichnet das Zeitalter "Anthropozän", ist der Mensch zu einem Geofaktor geworden.
Latour verweist auf den ökologischen Fußabdruck, eine Maßzahl für den Pro-Kopf-Verbrauch von Ressourcen in Bezug auf eine bestimmte Fläche. Würden alle Menschen einen Lebensstandard haben, wie die Europäer_innen ihn aktuell genießen, wären drei bis vier Planeten notwendig; für einen US-amerikanischen Lebensstandard sogar noch mehr. Würden alle Menschen so ressourcenschonend Leben, wie die meisten Menschen in afrikanischen oder in südostasiatischen Ländern, dann würde eine Erde ausreichen (vgl. Happy Planet Index).
Apocalypse Now?
Eine Anpassung des Lebensstils auf ein ökologisch verträgliches Maß ist bisher nicht erfolgt (im Gegenteil), was auch der Grund sein mag, weshalb James Lovelock so düstere Schlüsse zieht: Er geht davon aus, dass sich wohl noch in diesem Jahrhundert die Erdbevölkerung in Folge von Ressourcenverknappung und daraus resultierenden Kriegen drastisch reduzieren wird.
Latour zitiert auch Harald Welzer, den Autor von "Klimakriege - Wofür im 21. Jahrhundert getötet wird", ein bemerkenswertes Buch über das auch in der Geozentrale schon berichtet wurde (mehr...). Indem Welzer (2008) den Klimawandel als "ökosoziales Problem" identifiziert, das schon jetzt - noch stärker aber in Zukunft - zu gewaltsamen Konflikten führt, entlastet er zurecht die Naturwissenschaftler_innen, die den Klimawandel zwar als naturwissenschaftliches Phänomen identifizieren können, aber gar nicht dazu ausgebildet sind, dessen soziale Folgen abzuschätzen.
Wer rettet uns die Welt?
Die Sozialwissenschaften sollen nicht die teuer erkämpften Paradigmen um sozial konstruierte Wirklichkeiten aufgeben; sie dürfen nicht einfach verwerfen, dass unsere Wahrnehmung ein kognitiver Prozess ist, der viele Wirklichkeiten von vielen Subjekten hervorbringt. Nichtsdestotrotz ist nicht länger zu verleugnen, dass wir uns in einem anthropogenen Prozess, den wir Globalen Wandel nennen, befinden und dabei immer eifriger unsere materielle Lebensgrundlage zerstören (paradoxerweise mit dem Ziel unseren Lebensstandard zu erhöhen).
Wovon Latour spricht, ist ein im Grunde längst überfälliger Wandel: Die Hinwendung der Sozialwissenschaften zu denjenigen materiellen Faktoren, die schwerwiegende soziale Folgen haben oder haben werden.
Nachhaltigkeit tabu?
Bezeichnend für die bisherige Blindheit der Sozialwissenschaften gegenüber dem Materiellen ist vielleicht auch, dass Latour den Begriff "Nachhaltigkeit" in seinem Vortrag nicht ein einziges Mal verwendet (erst in der anschließenden Diskussion wurde dieser Begriff einmal von einem Zuschauer genannt). Wird der Begriff schon als so inflationär empfunden, dass er gemieden werden muss? Freilich wurde und wird Nachhaltigkeit oft mit einer guten Portion Halbwissen verwendet, oft auch mit moralisch fragwürdigen Absichten, etwa wenn Unternehmen sich ein grünes Mäntelchen überstreifen (Wiki: Greenwashing).
Aber genau das ist ja der sozialwissenschaftlich relevante Punkt: Rund um die Bedrohungen durch den Klimawandel oder das Ende des Erdöls werden Wirklichkeiten konstruiert, die suggerieren, den idealen Zustand der Nachhaltigkeit (den Einklang mit "Gaia") erreicht zu haben oder darauf hinzuarbeiten. Faktisch sind "wir", das Kollektiv, gerade dabei zu Versagen: Zur Begrenzung der Erderwärmung auf 2°C ist laut den Wissenschaftler_innen vom IPCC eine Stagnation des CO2-Ausstoßes bis etwa 2012 notwendig. Die meisten Menschen wollen nicht auf ihr Auto verzichten, wollen nicht weniger Strom verbrauchen, wollen möglichst weit weg in den Urlaub fliegen und kaufen eingeflogene Blumen aus Kenia. Doch so schnell wie letztere verblühen können, so schnell kann es (aus "Gaias" Sicht) mit dem Anthropozän vorbei sein.
Wandel jetzt und überall!
Ob das Ende des Anthropozäns bedeutet, dass sich die Menschheit in einem globalen Konflikt selbst reduziert (wie James Lovelock behauptet, siehe Video unten), oder ob es der Menschheit gelingt, ihren ökologischen Einfluss friedlich auf ein verträgliches Maß zu reduzieren (z.B. durch einen "qualitativen Wandel" wie ihn Serge Latouche mit seinem Konzept der "décroissance" fordert; mehr...) - dies ist eine Frage an der insbesondere die Sozialwissenschaften mitwirken können, sofern sie sich dem Materiellen wieder zuwenden.
Ansätze dazu sind schon vorhanden: Das humangeographische Institut in Frankfurt erforscht z.B. Gesellschaft-Natur-Verhältnisse in visuellen Medien (mehr...). Wer sich die Natur als "intakt" konstruiert (vgl. Greenwashing), der kann an seinen liebgewonnenen Gewohnheiten, am Status Quo, festhalten. Wie schon das Thomas-Theorem von 1928 besagt: "If men define situations as real, they are real in their consequences."
Den unsachlichen, verzerrenden Umgang der Medien mit dem anthropogenen Klimawandel schildern eindrucksvoll Maxwell und Jules Boykoff (2004). Für jemanden, der den Klimawandel nicht glaubt, gibt es keinen Klimawandel. Vielleicht glaubt er es, wenn ihm irgendwann die ständigen Dürren die Ernte vernichten oder die Flut sein Haus mitreißt. Vielleicht hat er bis dahin aber auch vergessen, dass es früher einmal anders war - gewaltsame Konflikte um Ressourcen sind seine Wirklichkeit, sind "ganz natürlich". Die Sozialwissenschaften haben hier dringenden Forschungsbedarf.
Literatur:
Boykoff, Maxwell T. & Jules M. Boykoff (2004): Balance as bias: global warming and the US prestige press. In: Global Environmental Change 14/2004: S. 125-136,Internet: http://www.eci.ox.ac.uk/publications/downloads/boykoff04-gec.pdf (zuletzt geprüft am 20.10.2011).
Crutzen, Paul J. (2002): Geology of Mankind. In: Nature 415: S. 23. Internet: http://www.studgen.uni-mainz.de/sose04/schwerp3/expose/geology.pdf (zuletzt geprüft am 20.10.2011).
Mauser, Wolfram (2007): Globaler Wandel und Grenzen des Wachstums. In: Gebhardt, H., Glaser, R., Radtke, U., Reuber, P. (Hrsg.): Geographie. München: 966-975.
Ridgewell, Andy J. & Andrew J. Watson (2002): Feedback between aeolian dust, climate and atmospheric CO2 in glacial time. In: Paleoceanography Vol. 17, No. 4 (2002), Internet: http://lgmacweb.env.uea.ac.uk/e114/publications/ridgwell_and_watson_2002.pdf (zuletzt geprüft am 20.10.2011).
Welzer, Harald (2008): Klimakriege - Wofür im 21. Jahrhundert getötet wird. Frankfurt am Main.