Die Zertifizierungsverpflichtung von Betrieben der Orthopädieschuhtechnik: Das MGEPA NRW hat auch eine Meinung!

Erstellt am 16. Juni 2011 von Stscherer

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Nun hat sich das Bundesversicherungsamt (BVA) ja umfänglich zu einer Reihe von Fragen der Vertragsanbahnungen, Vertragsverhandlungen und Vertragsabschlüssen im Rahmen des §127 SGB V geäussert. Dabei war es zu dem Ergebnis gekommen, dass eine einseitige Auferlegung der Zertifizierungspflicht zum Nachteil der Betriebe durch die Krankenkassen unzulässig sei.

Bundesversicherungsamt: Klare Richtlinien für Verträge und Vertragsverhandlungen nach §127 SGB V – und eine schallende Ohrfeige für einige Krankenkassen « Rechtsanwaltssozietät Scherer & Körbes

Allerdings hat das Bundesversicherungsamt nur die Aufsicht über die bundesweit tätigen Krankenkassen, und deswegen kann man durchaus die Auffassung vertreten, dass Ansichten und Anweisungen des BVA für Krankenkassen, die nicht bundesweit tätig sind, keine Bindungswirkung haben – rechtlich haben sie es jedenfalls nicht direkt. Somit mag es formal nicht zu beanstanden sein, wenn die Innung für Orthopädieschuhtechnik NRW mit der – nicht bundesweit tätigen – AOK Rheinland-Hamburg in Kenntnis der Auffassungen des BVA einen Vertrag vereinbart, der erneut die Zertifizierung bindend ohne Ausnahmeregelungen vorschreibt.

Innungsverband für Orthopädieschuhtechnik Nordrhein-Westfalen und AOK Rheinland-Hamburg vereinbaren Vertragsklauseln entgegen der Rechtsauffassung des Bundesversicherungsamtes « Rechtsanwaltssozietät Scherer & Körbes

Auf Bundesebene entwickelt sich die Vertragslandschaft anscheinend anders, denn mit der TK hat nun die erste Krankenkasse klar ihren Kurs gewechselt und auf die Zertifizierung ausdrücklich verzichtet:

Techniker Krankenkasse: Zertifizierung wird ausgesetzt « Rechtsanwaltssozietät Scherer & Körbes

Dies hat durch den dadurch entstandenen massiven Druck der Betriebe zu einer heftigen Reaktion in NRW geführt, denn dort ist man bisher ja klar im Lager der der Befürworter einer flächendeckenden Verpflichtung der Betriebe zur Zertifizierung:

Vertrag zwischen der Innung für Orthopädie-Schuhtechnik Rheinland/Westfalen und der AOK Rheinland/Hamburg: Hätte es tatsächlich noch schlimmer kommen können? « Rechtsanwaltssozietät Scherer & Körbes

und

Von Einer, die auszog, den nicht zertifizierten Betrieben das Fürchten zu lehren! « Rechtsanwaltssozietät Scherer & Körbes

Gleichzeitig hat eine andere Organisationen in NRW –  die IGOS NRW – den Versuch unternommen, einen eigenständigen Vertrag mit der AOK Rheinland-Hamburg abzuschliessen, und, als dies aufgrund der dortigen Weigerung der nicht zu einem Erfolg führte, die insoweit zuständige Aufsichtbehörde eingeschaltet: das Ministerium für Gesundheit, Emanzipation, Pflege und Alter des Landes Nordrhein-Westfalen (MGEPA).

Von dort liegt nun eine Einschätzung vor, und diese unterscheidet sich interessanterweise doch massiv von derjenigen des BVA; deswegen dokumentiere ich sie nachfolgend. Das Schreiben finden Sie zum Nachlesen, wobei allerdings die dort erwähnten Stellungnahmen sowohl der AOK Rheinland/Hamburg als auch der Innung in NRW mir nicht vorliegen.

    1. Der ersten Seite ist zu entnehmen, dass das MGEPA wohl die Auffassung des BVA teilt, dass die einseitige Vorgabe einer Zertifizierung durch eine Krankenkasse unzulässig sei. Allerdings sei hier im konkreten Fall zwischen der Innung und der AOK über diesen Punkt verhandelt worden, und es sei die Innung für Orthopädie-Schuhtechnik NRW gewesen, die sich schon vor Beginn der Vertragsverhandlungen für eine Zertifizierung(spflicht) ausgesprochen habe.
    2. Daraus schliesst das MGEPA: Die Zertifizierung wurde nicht einseitig von der AOK vorgegeben, sondern war vielmehr Inhalt der Vereinbarung, d.h., ein aufsichtsbehördliches Einschreiten findet nicht statt, weil eine einseitige Vorgabe nicht vorliegt, sondern die Innung selbst die Zertifizierung im Verhandlungswege – und gegen die Interessen eines Teils ihrer Betriebe – mit hat aufnehmen lassen. Wie sich dies allerdings mit der Aussage der Innung gegenüber der Barmer GEK und der TK verträgt, die Regelungen seien „einvernehmlich“ (die Anführungsstriche stammen nicht von mir) getroffen worden, erschliesst sich mir nicht. Ich hatte diese Äusserung bisher so verstanden, dass man sich seitens der Innung in den Vertragsverhandlungen dem krankenkassenseitigen Druck zur Vereinbarung der Zertifizierungspflicht ausgesetzt fühlte – da würde mich schon die zitierte, aber nicht bekantt gewordene Stellungnahme gegenüber dem Ministerium interessieren. Doch weiter:
    3. In der Folge hebt das MGEPA auf erteilte Verhandlungsvollmachten seitens der Betriebe ab – doch was soll dies bewirken? Zum Einen können Vollmachten konkludent, d.h., durch schlüssiges Handeln, widerrufen werden, und ausserdem verweist das MGEPA damit ja den einzelnen Betrieb auf interne Ansprüche gegen seine Innung – ein mühseliges Unterfangen für die Betriebe und ein eigenartiges Gebahren einer Aufsicht. Ganz übersieht das MGEPA dabei, dass jedenfalls die IGOS NRW kein Mitglied der Innung ist, eigenen rechtlichen Status im Rahmen von Vertragsverhandlungen hat und von ihr keine Vollmachten erteilt wurden. Kurz: ein Irrweg in der Argumentation des Ministeriums, und nicht der Einzieg, wie sich jetzt zeigen wird:
    4. Das MGEPA geht davon aus, dass die Zertifizierung keine Existenzbedrohung für die Betriebe bedeute, denn diese verursache keine übermässigen, sondern tragbare Kosten. Mit Verlaub, die Frage, die sich mir aufdrängt: hat die zuständige Mitarbeiterin des MGEPA die Argumentation nicht verstanden oder will sie diese nicht verstehen? Tatsächlich sind sich doch das BVA und das MGEPA darüber einig, dass eine einseitige Vorgabe der Zertifizierung unzulässig ist, d.h., eine Zertifizierung ist nicht erforderlich, um eine ordnungsgemässe Versorgung der Patienten zu sichern! Warum soll dann ein Betrieb Geld für etwas ausgeben, was nicht erforderlich ist, egal, ob der finanzielle Aufwand hierfür nun hoch oder gering, tragbar oder untragbar ist. Wählen wir ein drastisches Beispiel, um es transparent zu machen: Wäre die zuständige Mitarbeiterin des Ministeriums vielleicht auch der Meinung, man könne einen Bürger dazu zwingen, sich einen Fuchsschwanz an die Antenne seines Autos zu binden, nur weil der nicht so teuer ist (braucht zwar keiner, aber nett ist er doch…)? Und, seien wir mal ehrlich, nützt die Zertifizierung der angemessenen Versorgung eines Versicherten mehr als ein Fuchsschwanz an der Antenne der Verkehrssicherheit eines Fahrzeugs? Doch damit nicht genug:
    5. Es sind doch nicht die Kosten der Zertifizierung, die den Betrieb existenzbedrohend belasten, sondern der Umsatzausfall, der entsteht, wenn ein Betrieb aufgrund der fehlenden Zertifizierung die Versicherten der AOK nicht mehr versorgen kann. Rückt man also insoweit den Fokus mal wieder gerade, dann sieht die Sache nämlich ganz anders aus: weil die Folgen der fehlenden Versorgungsmöglichkeit für den Betrieb existenzbedrohend sind, wird er durch die Vereinbarung zwischen seiner – angeblichen – Interessenvertretung und der Krankenkasse in Kosten für ein Zertifizierungsverfahren gezwungen, welches nicht erforderlich ist, welches einseitig nicht verlangt werden könnte – aber welches bei ihm immerhin einen geringeren Schaden herbeiführt als der vollständige Wegfall der Versorgungsmöglichkeit.  So wird ein Schuh (im wahrsten Sinne des Wortes) daraus, wenn auch ein äusserst (be-)drückender!

Zum Schluss äussert sich das MGEPA auch zur Frage, ob die IGOS NRW als Zusammenschluss von Betrieben im Versichertenbereich der AOK Rheinland/Hamburg einen Anspruch auf eigenständige Vertragsverhandlungen (und damit eigenständige Vertragsabschlüsse) habe: die AOK habe ihre Verhandlungsabsicht öffentlich bekannt gemacht und nun einen Vertrag abgeschlossen, dementsprechend dürfe sie aufgrund des ansonsten unvertretbar hohem Verwaltungsaufwandes auf das Beitrittsrecht verweisen und müsse nicht erneut verhandeln.

Da ist es wieder, das kassenseitig gebetsmühlenhaft wiederholte Argumente, der Vertragsschluss mit einem Partner (wer dieser letztendlich auch sei) mache weitere Vertragsverhandlungen mit anderen Partnern aus vorgeschobenen Kostengesichtspunkten überflüssig. Wann habe ich dies nur das letzte Mal gehört? Richtig, bei den Rechtsstreitigkeiten der Landesinnung Nord mit der City BKK, die ja einen Vertrag über die GWQ abgeschlossen hatte und meinte, damit ihren gesetzlichen Verpflichtungen Genüge getan zu haben. Der derzeitige Stand ist in dem Link dokumentiert – und er stützt nicht den Standpunkt der Krankenkassen und des MGEPA:

Landesinnung Nord und die City BKK: Vom Kampf der unbeugsamen Norddeutschen… « Rechtsanwaltssozietät Scherer & Körbes

Und das das Ministerium setzt sich damit ausdrücklich mit dem Bundesversicherungsamt in Widerspruch; dieses hatte nämlich dazu Folgendes festgestellt:

  • Die Krankenkassen dürfen Leistungserbringer nicht ohne sachlichen Grund von Vertragsverhandlungen ausschließen oder gegenüber anderen Leistungserbringern benachteiligen.
  • Die Leistungserbringer haben keinen Anspruch auf Vertragsabschluss zu den von ihnen benannten (Preis-) Konditionen, da die vertragsrechtliche Ausgestaltung sich aus dem Verhandlungsgeschehen im freien Spiel der Kräfte entwickelt .
  • Die Krankenkassen sind verpflichtet, Vertragsangebote der Leistungserbringer ernsthaft zu prüfen.
  • Bei dem Recht gemäß § 127 Abs. 2a SGB V handelt es sich um ein Beitrittsrecht und nicht um eine Beitrittspflicht. Die Krankenkassen können daher Vertragsverhandlungen nicht mit Verweis auf andere beitrittsfähige Leistungserbringerverträge ablehnen; dies gilt nur dann nicht, wenn der Abschluss eines Vertrages begehrt wird, der mit einem bereits bestehenden Vertrag inhaltsgleich/ identisch ist, denn dann sind die Rechte der Leistungserbringer aus Art. 12, 2 GG durch den möglichen Vertragsbeitritt gewahrt.

Gerade Letzteres ist ja hier nicht verlangt, denn die IGOS NRW will keinen inhaltsgleichen Vertrag, sondern in jedem Fall eine gravierende Änderung: den Wegfall der Zertifizierung zum Schutz der Betriebe vor Benachteiligung und vor nicht erforderlichen Kostenbelastungen.

Machen wir uns Nichts vor, diese Stellungnahme des MGEPA stellt eine massive Verschlechterung der Möglichkeiten der Betriebe und deren Interessenvertretungen zur Erlangung von angemessenen Vertragsverhandlungen und Vertragsabschlüssen dar. Man mag es vordergründig auf der Habenseite derjenigen verbuchen, die derzeit die Zertifizierung mit Zähnen und Klauen verteidigen, langfristig aber wird dadurch auch ihre eigene Verhandlungsposition geschwächt – zum Schaden der von ihnen vertretenen Betriebe, teilweise ganz kurzfristig durch die fehlende Versorgungsmöglichkeit, teilweise langfristig durch di Verschlechterung der Verhandlungsposition.

Insoweit markiert dies Schreiben aus dem Ministerium in NRW einen deutlichen Rückschritt hinter die durch das BVA vorgegebene verbesserte Situation für die Leistungserbringer. 2 Schritte vor, nun wieder einer zurück.

Schade!

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