Die Zeit, so kostbar

Das hektische moderne Stadt- und Arbeitsleben kann uns verrückt machen. Doch sehen wir uns aufgrund von Jobs und Infrastruktur oft gezwungen, unsere wenigen Jahre in Hochhäusern und Bürotürmen gestapelt, in U-Bahnen und Autos und Warteschlangen und Termine und ToDos gequetscht zu verbringen. Wenn wir auch nicht immer die Möglichkeit haben, dem Wahnsinn den Rücken zu kehren, einen freien Beruf zu ergreifen und aufs Land zu ziehen, so können wir uns doch zumindest im inneren unserer Köpfe und Wohnungen in eine behagliche, bodenständige Ruhe und Freiheit zurückziehen und mehr von unserer Zeit in der Natur verbringen. Aussteigen, und doch drin bleiben. Als Zwischenschritt oder Dauerlösung.  

 

Henry David Thoreau (1817-1862), amerikanischer Philosoph und Schriftsteller, ist mit seinem Buch „Walden oder Leben in den Wäldern“ zur Ikone vieler Aussteiger geworden. Er baute sich eine Blockhütte an einem See in den Wäldern Massachusetts und lebte dort zwei Jahre lang allein auf der Suche nach einem ausgewogenen Leben jenseits von Konsum, Technik und zunehmender Spezialisierung in den Tätigkeiten. Was er dort gelernt hat kann uns lehren, wie wir auch heute noch so leben können, als wohnten wir in einer Blockhütte am See im Wald – befreit, geerdet, aufs Wesentliche konzentriert statt vom modernen Chaos in der Luft zerfetzt.

Bequem, aber unlebendig

Ich zog in den Wald, weil ich den Wunsch hatte, mit Überlegung zu leben, dem eigentlichen, wirklichen Leben näher zu treten, zu sehen, ob ich nicht lernen konnte, was es zu lehren hätte, damit ich nicht, wenn es zum Sterben ginge, einsehen müsste, dass ich nicht gelebt hatte. Ich wollte nicht das leben, was nicht Leben war; das Leben ist so kostbar. Auch wollte ich keine Entsagung üben, außer es wurde unumgänglich notwendig. Ich wollte tief leben, alles Mark des Lebens aussaugen, so hart und spartanisch leben, dass alles, was nicht Leben war, in die Flucht geschlagen wurde.

Jeder Fortschritt birgt die Gefahr, dass wir zwar bequemer existieren, aber weniger leben. Erst recht jeder Fortschritt, die wir nicht mal im Ansatz verstehen. Wir vergessen, woher die Nahrung kommt, bevor wir sie kurz in die Mikrowelle stecken oder schnell oder to-go runterschlingen. Wir vergessen, wie es ist, unseren Körper mit pulsierender Muskelkraft statt rotierenden Fahrzeugen zu bewegen. Wir vergessen in unseren Multifunktionskleidungsstücken und Hightech-häusern, wie sich Wärme, Kälte, Schweiß, Nässe, Hitze auf der Haut anfühlen. All das ist schweinebequem, kann jedoch dabei unsere Lebendigkeit abtöten. Wir schlagen das Leben in die Flucht, wenn wir die Bequemlichkeit anbeten.

Was könntest Du tun, um ein wenig mehr vom „Mark des Lebens auszusaugen“?

Teuer, aber mitunter sinnlos, anstrengend und ablenkend

Wenn er [der Mensch] die Dinge hat, die zum Leben nötig sind, so gibt es noch andere Bestrebungen, als sich um das Überflüssige zu bemühen: es steht ihm jetzt frei, sich dem Leben selbst zuzuwenden.

Mit einem weniger gut bezahlten Job müsstest Du auf einiges verzichten, an das Du Dich längst gewöhnt hast? Auto, Shopping, Restaurants, Clubs?

Vieles von dem, was wir für unverzichtbar halten, ist überhaupt nicht nötig. Das war im 19. Jahrhundert bei Thoreau so und ist es heute erst recht.

Ein Farmer erklärte mir: ‘Sie können nicht von Pflanzenkost allein leben, denn sie enthält nichts für den Knochenbau’, …; und während er mir vordoziert, geht er hinter seinen Ochsen her, die mit ihren vegetarisch aufgebauten Knochen ihn mitsamt seinem wackeligen Pflug über alle Hindernisse hinwegziehen.

So mancher Besitz ist nicht nur teuer in der Anschaffung, sondern auch anstrengend und ablenkend in der Haltung.

Ich hatte drei Kalksteine auf meinem Pult liegen, fand aber zu meinem Entsetzen, dass sie tägliches Abstauben benötigten, während mein geistiger Hausrat noch unabgestaubt dastand, und voller Abscheu warf ich sie zum Fenster hinaus.

Oft glauben wir, vorangekommen zu sein, wenn wir mehr Geld im Portemonnaie oder auf dem Konto liegen oder für teure Kleidung oder mit Swarosvski-Steinchen besetzte Handy-Schutzhüllen, Notebooks und Autos (gibt’s alles) ausgegeben haben.

Doch das Funkeln des Geldes oder der Swarovski-Steinchen vermag es, uns so abzulenken, dass wir in Wirklichkeit aufgehalten werden.
Anstatt uns mit uns und dem Innenleben zu beschäftigen, als Menschen zu wachsen, wachsen wir die teuren neuen Schuhe oder das teure neue Auto.

Der genießt wahre Muße, der Zeit hat, den Zustand seiner Seele zu fördern.Wenn wir weise und ohne Eile sind, so sehen wir, dass nur große und würdige Dinge eine ewige und absolute Dauer haben, dass kleine Sorgen und kleine Freuden nur Schatten der Wirklichkeit sind.

Gibt es etwas, auf das Du verzichten könntest, um so Deine Ausgaben und damit Dein nötiges Einkommen zu reduzieren und die Zeit für Dich zu vergrößern?

Die Zeit, so kostbar

Lasst uns unsern Tag mit soviel Überlegung verleben wie die Natur und uns nicht von jeder Nussschale, jedem Moskitoflügel, der auf unsern Pfad fällt, davon abbringen. Lasst uns früh aufstehen und fasten oder die Fasten brechen und frühstücken, ruhig und ohne Hast; lasst Besuch kommen, lasst Besuch gehen, die Glocken läuten und die Kinder schreien – wir wollen uns unseres Tages freuen. Warum sollten wir nachgeben und im Sturme untergehen?

Wie klingt das für Dich? Ich empfinde eine große Freude und Lebendigkeit, wenn ich diese Worte lese.

Was, wenn Dein Tag mit einem Spaziergang beginnen würde, statt mit dem Kampf durch die morgendlichen Menschenmassen?

Ein Spaziergang am frühen Morgen ist in Segen für den ganzen Tag. Kein Feuer kann sich mit dem Sonnenschein eines Wintertages messen.

Zeit haben, für das Wesentliche. Für Freunde und Familie, Gespräche und Spiele, Kreativität, die Natur und uns selbst.

Anstatt uns mit Tätigkeiten kaputt zu schuften, deren tieferer Sinn uns fremd ist, in der vagen Hoffnung, uns irgendwann mal so richtig schön zurücklehnen zu können (wenn wir alt, erschöpft und krank sind).

Die meisten Menschen würden sich beleidigt fühlen, wenn ihnen eine Beschäftigung vorgeschlagen würde, Steine über eine Mauer zu werfen und sie dann wieder zurückzuwerfen, bloß um ihren Lohn damit zu verdienen. Aber viele werden in keiner würdigeren Weise beschäftigt.

Die Freiheit, so nah (aber wir müssen sie uns selbst nehmen)

Wenn jemand vertrauensvoll in der Richtung seiner Träume vorwärts schreitet und danach strebt, das Leben, das er sich einbildete, zu leben, so wird er Erfolge haben, von denen er sich in gewöhnlichen Stunden nichts träumen ließ. Er wird mancherlei hinter sich lassen, wird eine unsichtbare Grenze überschreiten. Neue, allgemeine und freiere Gesetze werden sich um ihn und in ihm bilden oder die alten werden ausgedehnt und zu seinen Gunsten in freierem Sinne ausgelegt werden.

Wer davon träumt, auszusteigen oder in einer anderen Form mehr Zeit für das Wesentliche zu haben, kann entweder darauf warten, dass sich die Dinge so fügen, wie er will (warum sollten sie?) – oder die Veränderung anpacken. Entscheidet er sich für letzteres, wird er womöglich von einem günstigen Wind getragen, wo er doch eigentlich so lange von stürmischen Gegenwinden ausging.

Einsam macht das Aussteigen übrigens zumindest nach meiner Erfahrung und der von Thoreau nicht, wenn diese Angst auch zu den häufigsten gehört, wenn es darum geht, etwas anderes zu tun oder womöglich woanders zu leben als die Massen.

Die Einsamkeit wird nicht nach den Meilen der Strecke gemessen, die zwischen uns und unsern Mitmenschen liegt.

Wenn Du Dich auch schon häufig einsam inmitten des scheinbar Geselligen gefühlt hast … ist der Ausstieg dann nicht vielleicht mal einen Versuch wert, um vielleicht wenigere, aber tiefere Bezieh- ungen zu erschaffen?

Quelle: myMonk.de

 


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