Ist es möglich, komplexe Ideen in einem Tanzstück auf die Bühne zu bringen, an dem viele kreative Köpfe beteiligt waren, ohne das sich ein einziger als Spiritus rector redlich hervortun darf? Grace note – als Uraufführung von Wien Modern am 31. Oktober aufgeführt – zeigt, dass dies tatsächlich funktioniert und ein rundes und beeindruckendes Ganzes ergibt, welches den verdorbenen Brei, der von vielen Köchen zubereitet wurde, Lügen straft. Das Ensemble Phace, der Komponist Arturo Fuentes, die Tanztruppe Liquid Loft, der Choreograf Chris Haring und Günter Brus, der in Österreich wohl nicht vorgestellt werden muss, bilden jene Mischung, aus der gelungene zeitgenössische Cross-over-Projekte entstehen können.
grace note eine Uraufführung bei Wien Modern mit Phace und Liquid Loft – Foto (c) Michael Loizenbauer
Menschen werden geboren, erschaffen sich ihren ganz persönlichen Zugang zur Welt, treiben ihre Späße und Kunst!, diskutieren, arbeiten und produzieren, bis sie diese Welt wieder verlassen – oder vielmehr das, was sie für ihre Welt gehalten haben. Basierend auf den “Sechs Vorschlägen für das neue Jahrtausend” von Italo Calvino, von denen jedoch nur fünf fertiggestellte Essays zustande kamen, komponierte der junge Arturo Fuentes eine einstündige Musik, die auch ohne Bühnengeschehen aufgeführt werden könnte. Fuentes, in Österreich kein Unbekannter mehr, hat heuer das österreichische Staatsstipendium für Komposition erhalten und agiert obendrein als diesjähriger composer in residence beim Ensemble Phase. Für “grace note” entwarf er Klangteppiche der Unendlichkeit, entführt aber genauso in hektische frühindustrielle Zeiten – wenn er einem ansteigenden elektronischen Grundrauschen die Geräusche eines anfahrenden Zuges beimischt – oder unterstreicht die Artikulationen einer Sängerin ironisch mit Klarinettengeräuschen die Küsse imitieren, wie bei einem Play-back Grimassen unterstreichen oder lasziven Augenaufschlägen ihre beabsichtigte Wirkung konterkarieren. Neben all der subjektiven Auseinandersetzung mit Calvinos Text gibt es aber auch eine Erweiterung der angerissenen Fragestellungen, die sich jedoch ganz und gar nicht auf das Hier und Jetzt beziehen und dieses beleuchten. Vielmehr trägt Günter Brus mit einem von ihm selbst gesprochenen Text zur Erweiterung des Geschehens bei, indem er dieses von der zukünftigen Ewigkeit abkoppelt und einen kleinen philosophischen Exkurs zum Thema Zeit beisteuert.
Was ist Zeit – wo fängt sie an und wo hört sie auf? Ist es möglich, Zeit als etwas wahrzunehmen, das endlich ist? Zeit ist laut Brus etwas von Menschen Gemachtes und unsere Geschichte ist eine, die aus Legenden und Mythen, Märchen und Lügen konstruiert wurde. Nur die Kunst selbst, wie etwa eine Komposition, ist etwas Zeitloses, etwas, das bis ans Ende der Zeit und darüber hinaus hör- und fühlbar bleibt. Mit diesem Erlösungsversprechen setzt der österreichische Generalist unter den zeitgenössischen bildenden Künstlern einen Kontrapunkt zum wirbelnden Geschehen auf der Bühne, das von alltäglichen Wirrnissen des Lebens nur so strotzt, zugleich aber auch sehr einprägsame und wunderschöne Bilder vermittelt.
Einen musikalischen Höhepunkt liefert Roland Schueler, indem er sein Cello zu einem Percussionsinstrument verwandelt und ein Solo hinlegt, das einfach nur atemberaubend ist. Ab nun müsste er den Titel “Cellopercussionist” tragen, der ihm sehr gut stehen würde. Sein Saitenschlagen und -zupfen, das er nur mit seinen Fingern ausführt, ersetzt jeden Drumstick und seine Meisterschaft – seine spezielle Virtuosität – kann gar nicht explizit genug betont werden. Während Schueler mit seinem Cello nahe am Publikum sitzend sein Percussionfeuerwerk abbrennt, agieren im Hintergrund zwei Tänzer (Luke Baio und Ian Garside) mit einem meterlangen Kabel, das sie in Schwingungen bringen. Unter ihren geschickten Bewegungen erzeugen sie damit Sinus- und Cosinuskurven, flache Endlosschleifen oder ganz unregelmäßige Wellenbewegungen. Dieses auf der Bühne ungeliebte, aber technisch notwendige Utensil erhält unter ihrer Bearbeitung eine ganz neue ästhetische Komponente.
Die im Raum verteilten Instrumente, Sesseln und Mikrofone auf ihren Galgenständern, sind die einzigen Requisiten. Trotz dieser Kargheit genügt diese Ausstattung, die nur durch eine geschickt eingesetzte Beleuchtung einem athmosphärischen Wandel unterliegt, völllig. Stephanie Cumming, als einzige Frau agierend, belebt die Szenerie nicht nur wie ihre beiden Kollegen durch ihre tänzerischen Eingriffe, sondern stellt in einer Szene – in der ihr Gebaren, wie schon erwähnt, durch das Saxophon (Lars Mlekusch) akustisch unterstrichen wird – ihr komödiantisches Talent zur Schau. Gerade der beinahe ständige Wechsel zwischen intellektuell anspruchsvollen Passagen und solchen, in denen laut gelacht werden darf oder auch jenen, bei denen die Ästhetik des Bühnengeschehens im Vordergrund steht machen gemeinsam mit der klugen und zugleich packenden Musik den Reiz der Vorstellung aus.
“Die Zeit gehört vor ihrem Ende totgeschlagen” räsoniert Brus in einem seiner letzten Statements des Abends. Hoffen wir, dass sich ihr Mörder damit noch lange Zeit lassen.
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