Die Zeichnung lebt!

Die Albertina vereint in der Ausstellung „Drawing now 2015“  130 Werke von 36 zeitgenössischen Künstlerinnen und Künstlern. Wer dachte, das Medium der Zeichnung hätte sich überholt, wird hier eines Besseren belehrt.

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Gedämpftes Licht, Papierblätter die nur unter Aufbietung aller konservatorischer Regeln dem Publikum präsentiert werden können, eine Aura des Erhabenen und Unantastbaren: All das gibt es in der Ausstellung „Drawing Now 2015“ nicht zu sehen. Die Albertina präsentiert darin vielmehr Arbeiten von insgesamt 36 zeitgenössischen Künstlerinnen und Künstlern, die von der Kuratorin Elsy Lahner als beispielgebend für das Medium Zeichnung unserer Tage ausgesucht wurden. Und die sind alles andere als museal erhaben, sondern in ihrer Vielfalt und Qualität schlichtweg spannend.

Als Einstimmung werden die Besucherinnen und Besucher mit einer grafischen Intervention von Rainer Prohaska an der Fassade des Museums begrüßt. Grellorange leuchtende Zurrbänder sind quer über die Fassade inklusive des Flugdaches des Museums gespannt und künden im öffentlichen Raum von einem erweiterten Zeichnungsbegriff. In einem Video, das sich auf der Homepage der Albertina findet, spricht der Künstler aufschlussreich über die Entstehungsgeschichte. Der Film ist einer von insgesamt vier, welche die Ausstellung aus unterschiedlichen Perspektiven ergänzen, ein Service, das im internationalen Ausstellungsbetrieb keine Vergleiche scheuen muss.

Der Begriff Zeichnung ist für einige Arbeiten dieser Schau irreführend, da er eine Einschränkung vorgibt, mit der man das Zeichenhafte auf einem Malgrund, meist Papier, assoziiert. In der Basteihalle im Untergeschoß des Museums oszilliert jedoch das grafische Element von der Wand ins Objekthafte (Fritz Panzer, Monika Grzymala, Constantin Luser) oder erfährt in kleinen Filmen eine Animation (David Shrigley, Marc Bauer). Nicht ausgelassen wird ein Blick auf den öffentlichen Bereich, in welchem sich in den letzten Jahrzehnten die Kunst des Graffiti verbreitete. Dan Perjovschi nutzte dafür eine ganze Wand in der Ausstellung selbst, um seine pointierten Reflexionen zum Kunstbetrieb darzulegen; Robin Rhode ist mit einer hoch ästhetischen Fotoarbeit vertreten, in der die Entstehungsgeschichte eines Schwarz-Weiß-Graffitis samt Künstlerpose eingefangen ist.

Mehrfach schon hat Klaus Albrecht Schröder, Leiter des Hauses, darauf hingewiesen, dass eine Aktualisierung des Ausstellungsbetriebes aber auch der Sammlung selbst nur dann zielführen ist, wenn diese die aktuellen Strömungen integrieren. Und das bedeutet schon seit Längerem, auch den Crossover verschiedener Kunstdisziplinen zu berücksichtigen.

Fritz Panzers „Elevator“, sinnfällig in der Verlängerung der tatsächlichen Rolltreppe aufgestellt, ist dafür ebenso ein Beispiel wie die Rauminstallation von Constantin Luser. Der um eine Generation jüngere österreichische Künstler übersetzt das grafische Element ähnlich wie Panzer mit feinen Drähten ins Dreidimensionale, lässt jedoch im Gegensatz zu Panzers geometrisch kodierten Arbeiten der Poesie einen stärkeren Raum. Seine Verknüpfungen von den ätherischen Objekten mit feinen Zeichnungen, die direkt auf der Wand angebracht sind, waren auch in der Kunsthalle in Krems vor wenigen Monaten zu sehen und faszinieren immer wieder aufs Neue.

Auffällig ist, dass sich eine große Anzahl von Arbeiten der Wiedergabe der sichtbaren Realität entziehen oder diese verfremden. So zeigt Tatiana Trouvé in zwei Bildern fantastische Räume, in welchen sich architektonische Innen- und Außenelemente kunstvoll verzahnen. Aleksandra Mir fügt sechs Papierbahnen so aneinander, dass sich das darauf abgebildete, imaginierte Schlafzimmer übers Eck von der Decke bis zum Boden auf zwei Ausstellungswänden erstreckt. Löwen und Fabelwesen beleben die Szenerie, die jedoch keinem Kulturkreis fix zuzuordnen ist. Michaël Borremans kleine Blätter, die er „Sculptural installations for abandoned Airport“ nennt, verbreiten ganz subtil Grauen, evoziert er mit dem Titel und den abgebildeten Fantasien doch Horroszenarien im Kopf. Paul Noble entführt in seinen beiden wandfüllenden Arbeiten ebenfalls in fantastische Welten, die trotz oder wahrscheinlich wegen ihrer strikten Ordnung nicht wirklich zum Verweilen einladen. Amy Cutler treibt das Spiel mit der Fantasie am offensichtlichsten. Ihre bunten Frauengestalten bewegen sich zwischen Märchen, Mythen und Sagen, ohne dass man ihnen fixe Erzählstrategien zuordnen könnte.

Zwei gesellschaftskritische Positionen kommen hingegen von Andrea Bowers und Olga Chernycheva. Erstere isoliert dabei einzelne weibliche Figuren aus Fotografien, die sie akribisch mit feinem Buntstift nachzeichnet. Aufgenommen wurden die Fotos bei verschiedenen Protestaktionen, deren Themen auf den abgebildeten Schildern sichtbar werden. Die Fokussierung auf eine einzelne Person, die auf den weißen Blättern nicht zentral, sondern immer außerhalb des Mitte angeordnet ist, lässt jede Menge Denkraum zu. Eine starke Arbeit, in der dem schnellen und flüchtigen Moment der Fotografie eine Verlangsamung und Dauer entgegengesetzt wird, die den Anliegen der Demonstrantinnen ein starkes Gewicht verleiht. Auf Olga Chernychevas Schwarz-Weiß-Zeichnungen breitet sich jene Armut aus, die im heutigen Russland keine anderen Züge trägt als schon im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Verelendete Menschen in Lumpen verlieren bei ihr jedoch nicht ihre Würde. Die Objekte, mit welchen die Künstlerin die Menschen abbildet, fungieren in ihrer Titelgebung als Schutzschilder; als letztlich fragile, oftmals nur fühlbare Anker, welche sie noch in der Gesellschaft verbleiben lassen. Der kunsthistorische Bogen von der Zeichnung, wie sie auch in den Blättern des Weberaufstandes von Käthe Kollwitz sichtbar wurden, erfährt hier eine zusätzliche Dimension durch die beklemmende Aktualität des Geschehens.

Geometrie und geometrisch erzeugter Illusionismus wird ebenfalls mit mehreren Arbeiten sichtbar. Lotte Lyon führt aufmerksame Besucherinnen und Besucher mit einer blau-rot-geometrischen Treppenspiegelung an der Decke über der Rolltreppe in den Ausstellungsraum; Toba Khedoori lässt auf ein und demselben Blatt aus unterschiedlichen Blickwinkeln in ein Fenster blicken und Silvia Bächli gelingt es, geometrischen Farbstreifen eine eigene Handschrift zu hinterlegen.

„Drawing now“ ist eine jener Ausstellungen, deren Besuch  sich in mehrfacher Hinsicht lohnt. In ihr wird einerseits deutlich, wie groß heute die Bandbreite ist, in der sich Künstlerinnen und Künstler zeichnend ausdrücken. Andererseits verdichtet und veranschaulicht sich dort auch jene zeitgeistig weit verbreitete Stimmung, die beabsichtigt, den realen Alltag vergessen zu machen und in Fantasiewelten einzutauchen. Die kluge Auswahl der Arbeiten vereint gekonnt scheinbar Unvereinbares und lässt Arbeiten, die dem herkömmlichen Gattungsbegriff der Zeichnung entsprechen, locker neben solchen existieren, die sogar ins Performative (eine Installation von Nikolaus Gansterer) wechseln. Nicht zuletzt vermitteln gerade auch die großen Formate ein Gefühl davon, dass der Gestus der Zeichnung, egal ob pingelig genau ausgeführt oder eher mit großzügiger Geste angegangen, eine intensive vorherige Auseinandersetzung mit dem Thema und der Technik verlangen. Ein in vielen Bereichen schon tot gesagter Kunstbegriff zeigt sich hier von seiner vitalsten Seite.


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