Die Wutbürger sind unter uns
von Thomas Baader
Es gibt ein bestimmtes Milieu in Deutschland, das auf die Nachricht des Todes eines Menschen auf zwei verschiedene Arten reagieren kann: enthemmte Empörung oder klammheimliche Freude. Empört reagiert man auf die Nachricht vom Tod eines Terroristen und Massenmörders wie Osama bin Laden, die Freude hingegen zeigt man mittlerweile nicht mal mehr klammheimlich, sondern allzu offen, wenn es der Mitarbeiterin eines verhassten Systems an den Kragen geht. Nein, mit diesem System ist nicht etwa die NS-Diktatur oder das Hamas-Regime gemeint. Es geht um ein Jobcenter.
Ich habe mich vor wenigen Tagen zu diesem Thema bereits ausgelassen, als mir ein Artikel bei "Scharf-Links" dazu Anlass gab. Doch auch bei Telepolis wird man in diesem Sinne fündig. Klaus Heck (der angibt, sich als Sozialpädagoge bereits selbst mit Jobcentern beschäftigt zu haben) führt dort in seinem Artikel "Der Tod von Irene N. im Jobcenter Neuss war (auch) ein Unfall" aus, was ihm auf der Seele brennt. Denn Heck scheint sich sicher zu sein, "dass der Täter nicht nur Opfer sein könnte, sondern mit hoher Wahrscheinlichkeit auch war" und zudem "den in Jobcentern üblichen Demütigungen, Verdächtigungen, Verfolgungen usw. tatsächlich ausgesetzt" gewesen ist. Und er fügt später hinzu: "In jeder Kommunikation ist immer jeder auch 'Täter'." Also auch Klaus Heck selbst?
Rufen wir uns in Erinnerung, dass eine Frau gestorben ist, und zwar eine Frau, die, anders als Osama bin Laden und Spießgesellen, niemals jemandem nach dem Leben getrachtet hat. Keine Kriminelle, keine Terroristin, keine Diktatorin. Machen wir uns klar, dass diese Frau Angehörige hatte. Und ein kleines Kind. Das Ausmaß einer menschlichen Verwahrlosung begreift man vor allem dann, wenn man keine Sekunde aus den Augen verliert, über was für ein Schicksal sich Schreibtischtäter gerade mit tief empfundener Häme auslassen.
Schauen wir uns nun Überschriften aus dem Kommentarbereich des Artikels an: "Schicksal", "Die Mordbuben sitzen woanders", "Das war der berühmte Arschtritt der passieren musste", "Beide sind Opfer", "Nun wissen wir: die Mitarbeiter des Jobcenters sind auch schwer vermittelbar!".
Schon angewidert? Lässt man die Überschriften hinter sich und wirft einen Blick auf die Kommentare selbst, wird es noch gruseliger: Da wird dann argumentiert, dass Teilnehmer der Wannseekonferenz zumindest am Ende am Strick gebaumelt hätten, was den verantwortlichen (wohl verborgenen) "Haupttätern" im Neusser Fall wohl erspart bleiben werde. Und wie man sich denn überhaupt in die Position begeben könne, in einem Jobcenter zu arbeiten "wie Tausende kleiner Konzentrationslagerbedienstete". Denn natürlich - wie sollte es anders sein? - kommt auch der Holocaustneid nicht zu kurz: Manche Kommentatoren steigern sich mit Wonne in Vernichtungsphantasien hinein, wobei natürlich der arme Mensch am heimatlichen Bildschirm, der überhaupt nichts zum Leben hat (aber alles, was darüber hinausgeht, wie etwa Computer, Monitor, Internetanschluss und Drucker), das von Vernichtung bedrohte Opfer ist und die dunklen Machenschaften des Finanzkapitals die Täter nur schemenhaft erahnen lassen. Und in deren Diensten stand, da ist man sich sicher, die Ermordete.
"Er hätte die blöde Kuh (ich bin fest davon überzeugt das die das mehr als verdient hat) einfach mit bloßen Händen erschlagen sollen." So einfach ist das: Man kennt die Frau nicht, hatte nie mit ihr zu tun, weiß aber irgendwie instinktiv, dass sie es verdient hat. Ob dieser Kommentator auch Freude daran fände, diese Theorie dem Kind zu unterbreiten, das jetzt Halbwaise ist? Verwundern würde das nicht. Ein anderer Kommentator weiß wiederum ganz genau, bei wem die eigentliche Schuld liegt: "Würden Mitarbeiter(innen) von Jobcentren die Würde von Menschen nicht mit Füßen treten, würde es gar nicht erst zu solchen Vorfällen kommen! " Und den ganz großen Durchblick glaubt der Kommentator "reisender2011" zu haben: "Hartz IV ist Krieg gegen eine ganze Bevölkerungsschicht. Und in einem Krieg gibt es nun einmal Tote. Ob das Ganze nun Totschlag, oder Mord im Affekt war, ist eigentlich egal." Ein anderer Kommentator scheint ähnliche Ansichten zu haben: "Als Soldaten in Zivil an der Front des Sozialabbaus müssen die Mitarbeiter bei der Ausführung der Angriffsbefehle des Kapitals gegen die soziale Gerechtigkeit damit rechnen, dass der Gegner auch mal zurückschießt."
Die Lektüre dieser Kommentare mag bei normalen Menschen Brechreiz ausüben, sie bringt aber auch Erkenntnis: Wer in Deutschland nicht nur keine Zukunftsaussichten hat, sondern auch menschlich und moralisch völlig gescheitert ist, der landet am Ende beim Hassprediger, bei der NPD oder eben bei Telepolis im Kommentarbereich. Der Internet-Wutbürger ist die moderne Entsprechung des mittelalterlichen Dorfbewohners, der selbst zu Fackel und Mistgabel greift, um mal ordentlich aufzuräumen, wenn er genau zu wissen glaubt, wo das Böse gerade sein hässliches Gesicht gezeigt hat. Und für den Gewaltproleten des 21. Jahrhunderts zeigt sich es nun einmal im Jobcenter. Dabei sollte der moderne Wutbürger nach diesem Gesicht mal an ganz anderer Stelle suchen: nämlich im Badezimmerspiegel.
Man fragt sich verwundert, mit welcher Berechtigung die Telepolis-Redaktion da noch über die Entgleisungen, die in den Kommentarbereichen vermeintlicher oder wirklicher rechtspopulistischer Blogs auftauchen, die Nase rümpfen möchte. Der eigene Saustall scheint noch lange nicht ausgemistet.