DIE WUNDER DER KARIBIK

Von Hillebel

Aline versucht, in der Karibik ihre geplatzte Hochzeit zu vergessen. Dort begegnet sie Stefan Krüger. Dreimal kreuzen und trennen sich ihre Wege. Ein schreckliches Geheimnis steht zwischen ihnen …

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Aline schlenderte über den bunten Markt von Kingston. Tropische Früchte und Gemüse leuchteten in allen Farben. Gewürze verströmten ihren Duft, Hühner gackerten in ihren Käfigen. Die Gerüche und Farben vermischten sich mit Calypsoklängen, mit Geschrei und fröhlichem Lachen. Mit allen Sinnen nahm Aline diese Lebensfreude in sich auf, denn Lebensfreude war das, was ihr in den letzten Monaten fast ganz abhanden gekommen war, genauer gesagt, seit Heiko ihr kurz vor der Hochzeit aus heiterem Himmel eröffnet hatte, dass er eine andere Frau liebte …

Es war eine gute Idee gewesen, ihren Urlaub auf Jamaika zu verbringen. Ihre Augen wanderten hinüber zu den schönen alten Kolonialhäusern mit den kunstvollen Balkonen, die den Platz umsäumten. Dahinter erhoben sich die Blue Montains, und über allem spannte sich der blaue Himmel, an dem der leichte Passatwind fröhliche weisse Wattewolken vor sich hertrieb.

“Hoppla”, sagte eine Männerstimme. Zwei kräftige Arme hielten Aline fest, bis sie wieder sicher stand. Ihr Blick senkte sich erschrocken, sah in zwei grauen Augen, die sie aufmerksam musterten.

“Tut mir leid, aber ich hatte den Kopf in den Wolken”, entschuldigte sie sich.

“Das kann hier passieren.” Der Mann lächelte, aber seine Augen blieben ernst. Sie schätzte ihn auf Mitte dreissig. Er war gross und breitschultrig, hatte ein gut geschnittenes Gesicht, und der dunkle Bürstenhaarschnitt stand ihm ausgesprochen gut. Sie hatten spontan Deutsch gesprochen, er war also ein Landsmann. Als er ihr jetzt kurz zunickte und weiterging, bedauerte sie das schon ein bisschen.

An einem Früchtestand trafen sie wieder zusammen. Er wählte fachmännisch eine reife Ananas, sie kaufte drei Granatäpfel.

“Machen Sie auch Ferien hier?” fragte sie mutig.

Wieder der prüfende Blick: “So kann man es nennen.” Der Tonfall war nicht unfreundlich, lud aber nicht zu weiteren Vertraulichkeiten ein.

Wenig später stiessen einige Kinder Aline im Vorbeirennen an. Die Tüte mit den Granatäpfeln fiel zu Boden, und die drei Früchte kullerten in drei verschiedenen Richtungen davon. Aline sah ihnen noch unschlüssig nach, als jemand sie schon einsammelte. Wortlos wurden sie ihr überreicht.

Wieder er!

“Danke, Sie sind sehr liebenswürdig.” Freimütig lächelte sie ihn an.

Sein Blick glitt über ihr leicht gebräuntes Gesicht mit den tiefblauen Augen, das von langen blonden Haaren umrahmt wurde. Unter dem leichten Stoff ihres Kleides zeichnete sich ihr schlanker, sportlicher Körper ab. “Sie machen also Ferien hier?” hörte er sich fragen.

“Ja, in Ocho Rios an der Nordküste der Insel. Im Hotel Jamaica Inn. Ich habe mir einen Wagen geliehen und unternehme heute meine erste Besichtigungsfahrt. Diese Insel hat so viel Schönes zu bieten. Und Sie? Sind Sie schon länger hier?”

“Seit ein paar Monaten.” Er steckte ihr die Hand hin und sagte: “Ich muss jetzt wirklich gehen. Ich wünsche Ihnen noch schöne Ferien.”

“Danke.” Sie fragte sich, warum sie diese unverhältnismässig heftige Enttäuschung empfand, als er in der Menge verschwand. Sie kannte diesen Mann doch kaum. Ausserdem war sie ganz bestimmt nicht hierhergekommen, um einen anderen Mann kennenzulernen!

Aber als sie in einem kleinen Restaurant zu Abend ass, musste sie immer noch an die forschenden grauen Augen des Fremden denken …

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Am nächsten Nachmittag schwamm sie weit in die traumhaft schöne Badebucht vor dem Hotel hinaus. Durch das kristallklare Wasser konnte sie die Fische sehen, die verspielt unter ihr hindurchschossen. Manche von ihnen berührten sie, ein ganz kecker knabberte an ihren Zehen, als sie sich eine Weile auf dem Rücken treiben liess. Weit draussen erst drehte sie sich um. Der palmenumsäumte weisse Sandstrand war kaum noch zu sehen, trotzdem schwamm sie noch ein Stück weiter in die blauen Fluten hinaus, ehe sie umkehrte.

Sie sah ihn sofort, als sie triefend und atemlos aus dem Wasser kam. Er lehnte nicht weit von ihr entfernt an einer Palme. Plötzlich hatte sie Mühe zu atmen. Sie mochte kaum glauben, dass er ihretwegen gekommen war und ertappte sich trotzdem bei dem Wunsch, es möge so sein. Jetzt kam er ihr entgegen.

“Schwimmen Sie immer so weit hinaus?” fragte er. “Ich habe mir Sorgen gemacht.”

“Brauchen Sie nicht”, lächelte sie ihm zu und wrang ihr langes Haar aus. “Ich bin eine sehr gute Schwimmerin.”

“Das hab ich gesehen.” Dann gestand er freimütig: “Also, ich wollte mich davon überzeugen, dass Sie gestern gut ins Hotel zurückgekommen sind. Übrigens, ich heisse Stefan. Stefan Krüger.” Sein Händedruck war fest und warm.

“Ich bin Aline Jaspers.” Sie ergriff seine Hand und errötete, weil ihr zu Bewusstsein kam, dass sie im Bikini vor ihm stand, während er vollständig angezogen war. Aber schon streife er sein blaues Freizeithemd über den Kopf, zog die helle Leinenhose aus und stand in einem Badeshort vor ihr: “Mögen Sie noch einmal mit ins Wasser kommen?”

Er streckte ihr die Hand hin, und zusammen liefen sie wieder zum Meer.

“Himmel, tut das gut”, sagte er, als sie nebeneinander hinausschwammen. Und er schwamm noch immer, als sie längst wieder umgekehrt war, als suche er etwas in den klaren Fluten, kam es ihr in den Sinn. Hatte er es gefunden? Seine Augen waren klar, als er sich endlich atemlos neben ihr in den Sand fallen liess.

Sie sprachen von der Insel, ihren Sehenswürdigkeiten, den Einwohnern, nur nicht von sich selbst. Nachher dinierten sie am Swimmingpool ihres Hotels, nachdem sie an der Bar einen Daiquiri getrunken hatten. Während sie später zu den rhythmischen Klängen einer Steel-Band tanzten, war es, als hielten ihre Herzen Zwiesprache. Dann zog es sie wieder ans Meer. Schweigend gingen sie am Strand entlang, nur das Rauschen der Wellen war hier noch zu hören. Über ihnen leuchtete der Sternenhimmel, und der Mond gab genug Licht, damit sie ihren Weg fanden. Auf einmal blieb Stefan stehen: “Aline, ich hab die ganze letzte Nacht an Sie denken müssen.”

“Und ich an Sie”, erwiderte sie genau so leise.

“Sollten wir uns nicht duzen?” Als sie nickte, fuhr er fort: “Warum bist du allein hier?”

“Mein Freund hat mich verlassen.”

“Erzähl, wenn es dir gut tut.”

Wieder merkte sie, dass sie zu diesem Mann unendliches Vertrauen hatte. Ihm konnte sie von Heiko, von ihrer bitteren Enttäuschung, erzählen. “Wir waren 22, als wir uns kennenlernten. Ich war Krankengymnastin, er studierte Informatik. Sobald er mit seinem Studium fertig war, wollten wir heiraten. Der Termin stand schon fest, aber zwei Wochen vorher gestand er mir, dass er eine andere Frau liebe. Es war nicht irgendeine Frau, es war Ulla, meine beste Freundin. Sie ging bei uns ein und aus, wir unternahmen fast alles zu dritt. Ich vertraute ihr. Ich vertraute beiden …”

Er drückte ihre Hand: “Verrat tut immer weh”, sagte er mitfühlend. Und plötzlich kamen die Tränen. Er nahm sie in die Arme, bettete ihren Kopf an seine Schulter, streichelte liebevoll ihr Haar, ihren Rücken. “Weine nur”, murmelte er, “lass alles aus dir herausfliessen. Nachher wird es dir besser gehen.”

Noch nie hatte sie derart weinen können. Dieser Mann erlaubte ihr, sich gehenzulassen, ihrem Schmerz nachzugeben. Er war da, um ihr Sicherheit zu geben, sie aufzufangen. Und plötzlich war da auch ein Begehren, so heftig, wie sie es noch nie gekannt hatte. Fühlte er es? Er nahm ihr Gesicht in beide Hände, sah sie ernst, fast schmerzvoll an, dann küsste er sie. Ihr ganzer Körper stand in Flammen. Sie klammerte sich an ihn, ihre Knie gaben nach, zusammen glitten sie in den Sand. Aber auf einmal rückte er von ihr ab, setzte sich auf: “Verzeih’”, bat er rauh, “aber ich kann nicht …”

Er starrte auf’s dunkle Meer hinaus. Schliesslich berührte sie ihn sanft, fragte leise: “Willst du mir nicht auch erzählen, was du erlebt hast?”

“Es gibt da eine Frau”, sagte er kaum hörbar, “und ein kleines Mädchen.”

“Du bist verheiratet?” Ihr Herz stand still.

“Sie sind tot”, sagte er dumpf.

In seiner Stimme war eine solche Qual, dass sie es jetzt war, die spontan seine Hand ergriff.

Vor drei Jahren war Stefans Leben zerbrochen: “Ich hatte immer Arzt werden wollen. Arzt, um den Menschen zu helfen. Ich arbeitete als Chirurg in einem grossen Krankenhaus und hatte meine Jugendliebe Monika geheiratet. Nach der Geburt unserer kleinen Sarah begann sie, unter Depressionen zu leiden, war deswegen in ärztlicher Behandlung. Sie warf mir vor, dass mir die Arbeit wichtiger sei als sie und das Kind. Ständig rief sie unter irgend einem Vorwand im Krankenhaus an. Eines Nachmittags wurde ich wieder ans Telefon gerufen. Monika machte sich Sorgen um die zweijährige Sarah, die Fieber hatte. Sie wollte, dass ich sofort nach Hause käme, um mir die Kleine anzusehen. Ich bereitete mich auf eine komplizierte Operation vor, im übrigens war es nicht das erste Mal, dass Monika mich mit einer Lüge dazu bewegen wollte, meine Kranken im Stich zu lassen und nach Hause zu kommen. Ich bat sie, den Hausarzt zu rufen. Zwei Stunden später rief sie wieder an. Der Arzt hätte eine Halsentzündung diagnostiziert und die üblichen Medikamente verschrieben, aber Sarah habe Schwierigkeiten zu atmen. Ungeduldig antwortete ich ihr, dass sie den Arzt noch einmal kommen lassen sollte und hängte auf. Ein schwerkranker Patient war gerade eingeliefert worden, den ich sofort operieren musste. Als ich spät nachts nach Hause kam, schlief Monika. Sie hatte ein starkes Schlafmittel genommen. Ich ging in Sarahs Zimmer. Unsere Tochter war tot. Erstickt an einem Kehlkopfgeschwür. Sie wäre mit einem Luftröhrenschnitt zu retten gewesen.”

Er holte tief Atem, sprach mit Mühe weiter: “Sechs Monate nach dem Tod unserer Tochter fuhr Monika bei helllichtem Tag gegen einen Brückenpfeiler. Sie war sofort tot. Für mich war es Selbstmord. Bei den beiden Menschen, die mir am nächsten standen, habe ich auf dramatische Weise versagt. Als Mensch, als Mediziner. Das ist unentschuldbar. Danach konnte ich nicht mehr operieren. Ich verliess das Krankenhaus, und seitdem komme ich nirgends zur Ruhe.”

Alines Herz zog sich vor Mitleid und Liebe zusammen. Verzweifelt suchte sie nach den richtigen Worten, die ihm helfen könnten.

“Es ist nicht gut, sich das ganze Leben lang Vorwürfe zu machen”, sagte sie schliesslich leise. “Es klingt vielleicht grausam, aber Vorwürfe machen niemanden wieder lebendig. Du hast als Arzt so viele Leben gerettet, das fällt doch auch in die Waagschale. Und das tust du jetzt nicht mehr. Du bestrafst nicht nur dich, sondern auch andere.”

Er legte den Arm um sie, drückte sie an sich. Sie fühlte, wie er am ganzen Körper zitterte. Er stöhnte: “Ich habe kein Vertrauen mehr in mich. In mein Können, mein Urteilsvermögen …”

Und doch war etwas in ihm, eine Kraft, eine Menschlichkeit, die nicht jedem gegeben war. Sie hatte es vorhin selbst gespürt.

Stefan war vor einem halben Jahr nach Jamaika gekommen. Niemand hier kannte seine Geschichte. Er lebte in einem kleinen Haus am Rande von Kingston, dort, wo die Slums begannen. Seinen Lebensunterhalt verdiente er als Barman in einem grossen Hotel, teilte oft genug das, was er hatte, mit seinen dunkelhäutigen Nachbarn. Heute hatte er frei.

“Du bist der erste Mensch, zu dem ich wirklich darüber sprechen konnte”, sagte er. “Es hat mir gut getan. Danke, dass du mich nicht verurteilst.”

“Aber du bist nicht zu verurteilen, Stefan”, erwiderte sie. “Du bist auch nur ein Mensch. Wir sind alle nicht vollkommen, können es gar nicht sein! Wir können nur versuchen, alles so gut wie möglich zu machen.”

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In den nächsten Tagen zeigte er ihr die Insel. Sie fuhren zu den Dunn-River-Falls, wo Wasserkaskaden aus 200 Metern Höhe ins Meer stürzten. Der Regenbogen, den die Sonne in den feinen Sprühnebel malte, erschien Aline wie ein Hoffnungsstrahl, der auf eine glückliche Zukunft wies. Wenn sie Stefan nur das Vertrauen zurückgeben könnte, um wieder anderen Menschen helfen zu können …

Stefan hatte wieder einen freien Abend, und Aline besuchte ihn in seinem Haus. Er hatte Curry mit Eiern, Fischen, Meerestieren, Gefügel und Gemüsen zubereitet, eine Spezialität der Insel. Es schmeckte köstlich. Ein Sorbet, aus exotischen Früchten zubereitet, schloss die Mahlzeit ab. Stefan lachte jetzt mehr als am Anfang, aber immer noch konnte seine Heiterkeit unversehens in Melancholie umschlagen. Gerade jetzt beobachtete Aline wieder mit wehem Herzen den Wechsel, der in ihm vorging. Er verstummte, seine Augen schlossen sich wie unter einem zu grossen Schmerz …

In diesem Augenblick klopfte es heftig an die Tür. Schreie waren draussen zu hören. Wie elektrisiert sprang Stefan auf und öffnete. Eine Kreolin stürzte hinein. Auf ihrem Arm trug sie ein kleines Mädchen, das kaum noch atmete, nur noch schwach nach Luft rang.

“Sie erstickt”, keuchte die Mutter. “Bitte, helfen Sie!” Auf beiden Armen streckte sie Stefan flehend das Kind entgegen. Und Stefan zögerte nicht eine Sekunde. Er nahm das Kind, legte es auf den Tisch, den Aline rasch freigeräumt hatte.

“Ein Messer, schnell, das schärfste aus der Schublade”, wies er sie an.

Er tastete die Brust ab. Aline reichte ihm das Messer, und mit sicherer Hand praktizierte Stefan den lebensrettenden Schnitt, öffnete die Luftröhre. Augenblicklich füllte Luft die Lungen des kleinen Mädchens, es schlug die Augen auf. Danach ging alles sehr schnell. Die Fahrt ins Krankenhaus, wo das kleine Mädchen weiterbehandelt wurde. Die Mutter, die vor Dankbarkeit weinte, die Stefan immer wieder dankte. Die Fahrt zurück in Stefans kleines Haus.

“Siehst du, du hast es getan. Du hast ein Leben gerettet. Du warst grossartig”, sagte Aline warm.

“Ich hatte keine Wahl”, wehrte er ab.

“Du hattest die Wahl. Niemand weiss hier, dass du Arzt bist, du hast es mir selbst erzählt. Trotzdem hast du es getan. Weil du mit Leib und Seele deinem Beruf verschrieben bist.”

In dieser Nacht wurden sie ein Liebespaar.

Als Aline am nächsten Morgen aufwachte, sah sie in Stefans zärtliche Augen: “Ich liebe dich, Aline”, sagte er inbrünstig.

“Ich liebe dich auch, Stefan.”

“Was nun?” fragte er.

“Erstmal brauche ich ein Frühstück. Ich habe einen Bärenhunger”, lachte sie.

Während sie duschte, zauberte er ein fürstliches Frühstück: Fruchtsaft, Kaffee, Ei, Brot, Butter und Marmelade. Sie assen mit Appetit, lachten, hielten sich an den Händen. Während er nachher duschte, trug sie das Geschirr in die blitzsaubere kleine Küche, wusch ab. Sie war gerade fertig, als seine Arme sie von hinten umfingen: “Ich möchte nachher gern die kleine Patientin im Krankenhaus besuchen, kommst du mit?”

Sie wirbelte herum, legte ihre Arme um seinen Hals: “Ich wollte es dir gerade vorschlagen!”

Flüchtig dachte sie an Heiko. Wie weit die Zeit mit ihm zurückzuliegen schien! Vier Jahre hatte sie mit ihm zusammengelebt. Sie stellte fest, dass sie ihn weniger kannte als Stefan nach zwei Wochen. Was tiefe Liebe und wahres Miteinander waren, wusste sie erst jetzt.

Sie spürte Stefans ruhigen, kräftigen Herzschlag, als er sie an sich presste, und ein tiefes Glücksgefühl durchströmte sie. Sie wusste nun, dass sie füreinander geschaffen waren, dass sie diesem Mann überall hin folgen würde, wohin er auch ging …

ENDE