Die Wilde Sau

Von Jens Furtwängler @stuckinbavaria

50° 56′ 44″ nördlicher Breite; 10° 17′ 28″ östlicher Länge


Sie hatte ihn unterlaufen!
Ein harter Ruck, und Balthaßer Rodechr kam auf dem struppigen Rücken des Borstentiers zu sitzen. Mit gesenktem Kopf hatte ihn seine vermeintliche Beute im Schweinsgalopp attackiert. Gottlob, so schoss es Rodechr wie ein Pfeil durch den Kopf, war es eine Bache gewesen, die ihn so unsanft von den Füßen geholt hatte. Ein Eber, mit seinen spitzen Hauern, hätte ihn von oben bis unten aufgeschlitzt; und er, Balthaßer Rodechr, läge nun sterbend im Wald, sein Blut den sandigen Boden verklumpend.
Das Nächste, dass der gleichsam um Fassung wie Orientierung ringende Rodechr auf dem Rücken der Wildsau bemerkt, ist sein Jagdgehilfe. Zitternd vor Anstrengung schwenkt der Mann die schwere Saufeder in Richtung des grotesken Gespanns. Der Spieß schwankt unruhig wie ein Fahnenmast im Wind, als seine Spitze die Sau verfolgt, die ihrerseits panisch den ungebetenen Reiter abschütteln möchte. Das der Spießträger sein volles Körpergewicht in den entscheidenden Stoß legt, ist das Letzte, dass Rochedr sieht, bevor scharfer Schmerz durch seinen Körper zuckt und Blitze vor seinen Augen explodieren…

So oder so ähnlich könnte sich jener Jagdunfall ereignet haben, der zum Tod des Balthaßer Rochedr und zum Aufstellen eines Mahnmals zu seiner Gedenken führte. Es soll ein Bediensteter gewesen sein der versuchte, die unfreiwillige Rodeo-Einlage des Adeligen zu beenden- und ihn dabei tödlich verwundete. Seitdem steht das Sühnekreuz „Wilde Sau“ auf einer Lichtung des Rennsteigs unweit einer Schutzhütte. Windschief, gebeugt von Wind und Wetter, neigt es sich dem Erdboden entgegen.

Das Sühnekreuz „Wilde Sau“ auf dem thüringischen Rennsteig.

Errichtet wurde es augenscheinlich 1483; in jenem Jahr, in dem auch Martin Luther das Licht der mittelalterlichen Welt erblickte. Der Reformator, geboren im ca. 220 Kilometer nordöstlich gelegenen Wittenberg, wird später einmal untrennbar mit diesem Landstrich verbunden sein.

Die Tradition der Sühnekreuze begründete sich schon Jahrhunderte vorher. Wie der Name sagt, wurden die Kreuze zur Sühne begangener Untaten errichtet. Meist an Wegen und Wegkreuzungen aufgestellt, taten Mörder und Totschläger hiermit (zumindest einen Teil der) Buße für ihr Kapitalverbrechen. Neben den horrenden Kosten für den Steinmetz musst der Delinquent die Beisetzung seines Opfers samt Kosten für die Heilige Messe bezahlen. Auch die Angehörigen mussten „entschädigt“ werden.
Alternativ dazu drohte die Heimsuchung durch den Geist des Gemeuchelten bis an das eigene Lebensende.

Blick auf die Wartburg.

Der künstlerische Anspruch an das Bildnis war bestenfalls zweitrangig. Dem mittelalterlichen Otto Normalbürger sollte vor allem bildhaft dargestellt werden, was zum Aufstellen des Sühnekreuzes geführt hatten. Und da der nun mal in 70% bis 90% der Fälle Analphabet war, blieb nur die Bildsprache.
Das der Steinmetz unserer Geschichte womöglich ein Gespür dafür hatte, brisante Sachverhalte allzu bildhaft zu umschreiben, zeigt eine zweite, pikantere Interpretation des Sühnekreuzes: so soll Balthaßer Rochedr von einem Mann beim Liebespiel mit dessen Gattin ertappt worden sein. Der gehörnte Ehemann griff wutentbrannt zum Spieß und nagelte Rochedr auf andere Art und Weise. Seine untreue Gespielin dagegen wurde gänzlich uncharmant als berittene „Wilde Sau“ in Sandstein gemeißelt.




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