Die Wikinger - Friedliche Berserker

Aus: Spektrum der Wissenschaft, November 2011
"Die Wikinger kommen!" Laut den Chronisten des Mittelalters erschallte dieser Warnruf an allen Küsten Europas. Mit ihren flachen Booten drangen die Krieger aus dem Norden flussaufwärts bis weit in das Landesinnere vor, legten Städte und Dörfer in Schutt und Asche. Umso erstaunlicher ist es, dass die Eroberung des Seine-Tals, aus der die Normandie hervorging, archäologisch kaum Spuren hinterlassen hat. Müssten da nicht Zeugnisse von Kämpfen sein, Gräber der Invasoren und Belege für die Unterwerfung der Bevölkerung?
Doch Archäologen fällt es schwer, die Anwesenheit der Wikinger in jenem Teil des fränkischen Reichs überhaupt nachzuweisen. Langschwerter etwa, wie sie die Skandinavier schwangen, wurden auch von einheimischen Rittern geschätzt, die wenigen Funde könnten also Beutestücke oder Nachbauten gewesen sein. Der französische Archäologe Vincent Carpentier deutet diese Fundarmut in der November-Ausgabe von Spektrum der Wissenschaft als Indiz einer für damalige Zeiten ungewöhnlichen Strategie: Statt das Land auszuplündern, versuchten sich die Wikinger in die Gesellschaft zu integrieren.
Das lässt auch der Bericht des Chronisten Dudo von St. Quentin vermuten, der im 10. Jahrhundert eine Geschichte der Normannen verfasst hat. "Der sehr duldsame König Karl will Dir dieses Land nahe der Küste, das von Astignus und von Dir über alle Maßen verwüstet wurde, zu Lehen erteilen." Mit diesen Worten soll der westfränkische König Karl III. im Jahr 911 den Wikingerfürsten Hrolf in den Stand eines fränkischen Herzogs erhoben haben.
Für eine gelungen Integration sprechen zudem die Befunde der Linguisten. Sie entdeckten im Altfranzösischen der Region zahlreiche Einflüsse der Eroberer, beispielsweise in geografischen Bezeichnungen. So enden Namen für Wasserläufe und Hafenflecken dort oft auf "bec" oder "fleur" (etwa die Gemeinden Caudebec-en-Caux oder die Hafenstadt Honfleur), was sich vom altnordischen bekkr, zu Deutsch "Bach", beziehungsweise floi, "Bucht" herleiten lässt.
Dass manch ein Mitglied von Hrolfs Truppe aus der englischen Wikinger-Dependance stammt, bezeugt das Dorf Auppegard im französischen Departement Seine-Maritime, das um 1160 noch "Appelgart" hieß – "Apfelgarten" oder "Apfelhof" auf Altsächsisch. Offenbar hatten sich die wilden Krieger vom Frankenkönig überzeugen lassen, dass man miteinander besser lebte.

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