Bernhard Günther, der zum ersten Mal als Intendant für das Programm verantwortlich zeichnet, stellte dieses unter ein Motto, das sich über vier Sätze erstreckt. „Die letzten Fragen: Woher kommen wir? Wohin gehen wir? und wo zum Teufel sind wir hier überhaupt?“ Dementsprechend war auch das Konzertangebot des ersten Abends ausgerichtet.
Bei diesem bewies Cornelius Meister im Großen Saal des Konzerthauses abermals seine Könnerschaft in der Interpretation zeitgenössischer Werke. Mit dem RSO hatte er sowohl eine österreichische Erstaufführung von Georg Friedrich Haas, als auch eine Uraufführung von Jorge E. López einstudiert.
Ein bedrohlicher Penderecki zu Beginn
Den Auftakt machte jedoch Krzysztof Penderecki. Die Widmung seines Stückes „Threnos. Den Opfern von Hiroshima“ von 1960 fügte er erst später hinzu, aber eigentlich bedarf es gar keines Titels, um die Spannung und Katastrophe nachzuvollziehen, die sich im großen Streichapparat (52 Instrumente) auditiv niederschlagen. Schon der scharfe Diskant zu Beginn zeigt Unheilvolles an. Die nervöse, prickelnde Grundstimmung, die darauf folgt, geht bald in ein bedrohliches Diktum über. Darin reiht sich eine unheilvolle Sequenz an die nächste. Bis heute ist es genial, wie man in diesem Penderecki-Werk sowohl erlittenes Einzelschicksal als auch jenes von Millionen Menschen nachvollziehen kann. Die Interpretation von Meister war glasklar und völlig unprätentiös, wie man es von ihm gewohnt ist.
Ganz hoch oben, ganz tief unten
Der Österreicher Georg Friedrich Haas (*1953), dem 2014 ein Schwerpunkt bei Wien Modern gewidmet war, wurde von gleich sechs unterschiedlichen Trägern zu seinem Konzert für Posaune und Orchester beauftragt. Der SWR, das Sinfonieorchester Basel, das RSO, Wien Modern und das Wiener Konzerthaus und eine Förderung der Ernst von Siemens Musikstiftung zeigen damit, dass es auch in Zeiten knapper werdender finanzieller Ressourcen möglich ist, dotierte, künstlerische Aufgaben zu vergeben. Den Posaunenpart übernahm Mike Svoboda, dem sich Haas nicht nur musikalisch, sondern auch freundschaftlich verbunden fühlt. Die Uraufführung erlebte das Konzert in diesem Jahr bei den Donaueschinger Musiktagen. Für Cornelius Meister war es, genauso wie die Symphonie von López, Neuland. Neuland, das er sich bravourös aneignete. Es war seinem Dirigat gut anzumerken, dass er nicht nur bis hin zu den kleinsten Partiturelementen seine Wahrnehmung geschärft hatte, sondern auch das Große und Ganze der jeweiligen Werke vermitteln konnte.
Mit der Passacaglia von Bach und Mozarts Großer Messe, KV 427 hat das Posaunenkonzert von Haas gemein, dass es in C-Moll beginnt. Dieser Umstand muss weiter nichts bedeuten, fügt sich jedoch bei der Betrachtung des Gesamtbildes des Konzertes wie ein weiteres Puzzlesteinchen hinzu. Haas gestaltet den anfänglichen Orchesterpart in höchstem Maße symphonisch, wobei das tonale System zu Beginn noch auf festen Beinen steht. Vom Orchester breit unterstützt, schwillt die Posaune langsam auf einem Ton an und verebbt wieder und variiert nur innerhalb der melodischen C-Moll Zerlegung. Feierlich und tragend erlebt man so den Einstieg, von dem man, kennt man die Werke von Haas, bereits weiß, dass er trügt. Beinahe unmerklich schiebt sich, nach einer akzentuiert gesetzten Harfe, eine feine Unschärfe in den Klang, bringt das allzu harmonische Bild etwas aus dem Gleichgewicht, um bald schon wieder eine sphärische, raumbeschreibende Stimmung auszubalancieren. Die Mikrotonalität, die ab nun öfter ihr Recht einfordert, ist ein Charakteristikum des Komponisten. Und sie verfehlt, klug eingesetzt, bei ihm nie ihre Wirkung, die je nach musikalischem Kontext ganz unterschiedlich sein kann.
Vom Raumschiff Enterprise in die Untiefen der menschlichen Seele
All jene, die als Jugendliche mit Raumschiff Enterprise fernsehtechnisch sozialisiert wurden, konnten sich dabei unschwer in einem Flug durch Zeit, Raum und endlose Galaxien wiederfinden. Beobachtend, staunend, zeitvergessend durfte man zuhören, allein – dieser Flug hielt jedoch nicht ewig an. Ein leichter Aufwind schien den Klang nach oben zu schieben, mit ihm Fahrt aufzunehmen, um schließlich unter Trommelbegleitung abzustürzen. Zu schön wohl, es hatte nicht sein sollen, dieses Wonnegefühl, das Haas jedoch so nicht für sich stehen ließ.
Mike Svoboda (c) Markus SeppererWer hoch fliegt, stürzt tief. Und so setzt er dem elysischen, traumwandlerischen Zustand einen kontrastierenden entgegen, der sich zumindest zu Beginn noch musikalisch enorm witzig präsentiert. Völlig trunken dümpelt dabei die Posaune in ihrer tiefen Lage herum, während sich der Rest des eben noch so eleganten Raumschiffes in Luft aufzulösen scheint. Wie ein besoffener Musikant, der seine Stücke nur mehr auszugsweise wiedergeben kann, generiert sich jetzt seine Solostimme und wird dabei dissonant begleitet. Wie in einem wehleidigen Selbstgespräch, in das Betrunkene gerne verfallen, parliert nun die Posaune und evoziert dabei zugleich höchst humorvolle Assoziationen. Jammernd, sich gegenseitig bestätigend und aufheizend, stimmt das Orchester bald mit ein. Vorbei das gewichtslose Fluggefühl, jetzt wird tief eingetaucht in die Untiefen der menschlichen Seele.
Bald schon bekommt Mike Svoboda Unterstützung von seinen Posaunenkollegen, die unisono in sein Jammerlied einstimmen. Bedrohlich beginnt sich der Klangraum zu verdichten, was nicht bedeutet, dass diese musikalische Klage klüger wird, oder mehr Seriosität bekommt. Nur wenn es Kräfte gibt, die das Negative bestärken, wirken diese eben auch mehrfach. Das Aufbrausen der Schlagwerker zeigt an, dass nun das herbei gebetete Elend endlich zum Greifen nahe ist. Mission completed könnte man ironischerweise hinzufügen, oder, umgangssprachlich: Jetzt hat er es endlich geschafft. Ist ja auch nichts schwerer zu ertragen, als eine Reihe von schönen Tagen, wie allgemein bekannt ist, möchte man trotzig hinzufügen und die Posaune am liebsten aus dem Orchester verweisen.
Diese beginnt, nachdem das Gejammer langsam abebbte, in einem scheinbaren, über Minuten anhaltenden, langsamen Abwärtsglissando sich ihrer Untat zu schämen oder zumindest, wie es bei einem anständigen Kater oft der Fall ist, nach und nach bewusst zu werden. Das Orchester, das wie nebenher wieder langsam in einen zarten, singenden Modus übergeht, übertönt zugleich die Atempausen des Solisten perfekt, der mit einigen wenigen, ganz verhaltenen Tönen, das Stück beendet.
Cornelius Meister, Georg Friedrich Haas, Mike Svoboda (c) Markus SeppererProgramm-Musik für ein individuelles Programm
Es braucht nicht viel Vorstellungskraft, um sich das beschriebene Szenario oder auch ein anderes, individuell zurecht geschnittenes, lebhaft vorzustellen. Das Wunderbare an dieser untitulierten, jedoch deutlich fühlbaren Haas`schen Programm-Musik ist, dass sie sich in jedes Lebensbild anschmiegen kann. Dass sie keinem Dogma verpflichtet ist, keiner hehren Idee, interpretationswillig ist, aber dennoch wunderbare Zeitbezüge aufweist. Wer lachen kann, darf das. Wer nur staunen möchte, soll nur staunen. Wer sich lieber den Kopf zergrübelt – auch das ist hier erlaubt. Wer die Bipolarität des musikalischen Geschehens auf eine Metaebene holen möchte, sie als Ausdruck des Menschlichen mit all seinen Höhen und Tiefen auffasst, auch der oder die werden diese Idee im Stück gespiegelt finden.
Drei Sätze und unzählige Perlen
Die Uraufführung des Abends wurde von Jorge E. López (*1960 in den USA) komponiert und war nicht nur eine Herausforderung für Orchester und Dirigenten, sondern auch für das Publikum selbst. Seine Symphonie Nr. 4 (zwischen 2013 und 16 entstanden) ist ein dreisätziges Werk, dessen einzelne Sätze jedoch beinahe nahtlos ineinander übergehen. Zwar verändern sich dabei die verwendeten Klangfarben und damit verbunden auch Kompositionsmuster, die Zuhörerschaft ist jedoch gefordert, diese Übergänge selbst wahrzunehmen. Breitet sich zu Beginn ein symphonischer Klangteppich mit Einsprengseln einzelner Stimmen aus und hat den Anschein, kein Ende zu nehmen, ist man doch überrascht, als er plötzlich mit Marsch- und ein Galoppeinsprengseln eine andere Seite des musikalischen Romans aufschlägt. Eines Romans, so hat es teilweise den Anschein, der in kleinen Verästelungen immer weiter mäandert, um am Schluss, in seinem dritten Teil, mit auf- und absteigenden Glissandi, die rhythmisch kontrastiert und von kurzen Melodieschnipseln unterbrochen werden, eine neue Charakterfärbung zu bekommen. Das Geräusch von asynchron tickenden Metronomen ersetzt kurz vor Schluss den Klang, der von wenigen Posaunentönen wiederaufgenommen und finalisiert wird.
Jorge E. López, Cornelius Meister (c) Markus SeppererLópez 4. Symphonie strotzt nur so von Einfällen und Zitaten, die in kleine Teilchen zerlegt, kaum ausgesprochen, schon wieder konterkariert werden. Die perlende Endlosschnur, an der man sich dabei hörend entlang hantelt, kann aufgrund der Ideenfülle nach gar nicht allzu langer Zeit nicht mehr daueranalysiert werden. Sicherlich vom Komponisten ein bewusst eingesetztes Stilmittel, das je nach persönlicher Verfasstheit des Publikums zu ganz unterschiedlichen Reaktionen führte. Von „in höchstem Maße entspannend“ bis „langweilig“ reichte das Erlebnisspektrum des knapp 1-stündigen, musikalischen Vortrages, der vom Orchester bis zur letzten Note mit allerhöchster Aufmerksamkeit ausgeführt wurde.